© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Corona-Krise verdunkelt die Weltwirtschaft
Erste Sektorenanalyse: Werden die Schäden größer sein als die durch den 11. September verursachten?
Dirk Meyer

In seiner „Ripple of Hope“-Rede am 6. Juni 1966 sagte Robert Kennedy: „Es gibt einen chinesischen Fluch, der da lautet: ‘Möge er in interessanten Zeiten leben!’ Ob wir es wollen oder nicht – wir leben in interessanten Zeiten“, so der damalige US-Senator aus New York in der Jameson Hall der Universität von Kapstadt. Damals gab es noch die Apartheid in Südafrika und die Bürgerrechtsbewegung in Amerika, den Kalten Krieg, den heißen Krieg in Vietnam und den Wettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion um Höchstleistungen in der Raumfahrt. Im übertragenen Sinne ist es heute wieder so –  nur läuft das Tempo nun im Zeitraffer.

Sichergeglaubte individuelle Freiheiten werden im Notverordnungsstil täglich und weltweit immer mehr eingeschränkt. Im Krieg gegen das Coronavirus werden alle verfügbaren Ressourcen eingesetzt – koste es, was es wolle. Auf den Intensivsationen müssen Ärzte Triage-Entscheidungen wie in Kriegslazaretten fällen, und es gibt einen globalen Wettlauf bei der fieberhaften Suche nach Corona-Therapien und -Impfstoffen.





Was sind die Gefahren aus den Folgen der Pandemie?

Sehr schnell hat es Lücken in den Lieferketten gegeben, die Produktion wird aufgrund von Krankheit/Quarantäne eingeschränkt. Der Produktionsstillstand läßt Beschäftigung, Umsätze, und Einkommen wegbrechen. Rein rechnerisch würde bei einem kompletten Ausfall für einen Monat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um gut acht Prozent sinken – bei 3,44 Billionen Euro (2019) wären das 275,2 Milliarden Euro. Das entspricht etwa dem Dreifachen der für dieses Jahr eingeplanten Mehrwertsteuereinnahmen des Bundes. Da die Grundversorgung weiterläuft und manche Produktion nachgeholt wird, kann realistisch von etwa drei Prozent Rückgang je Krisenmonat ausgegangen werden. Nicht nachholbar sind Restaurant- und Kinobesuche – diese Branchen trifft es besonders hart. Verträge können nicht mehr eingehalten werden – vielfach unklar ist die juristische Abwicklung. Nachfragerückgänge und Firmenpleiten vom Kleinunternehmern bis hin zu Fluggesellschaften leiten den Zweitrundeneffekt ein. Spätestens in ein, zwei Monaten wird die Krise durch Kreditausfälle bei den Banken ankommen. Wertberichtigungen zehren an ihrem Eigenkapital, und es könnte zu einer erneuten Bankenkrise kommen. Da der Bankenrettungsfonds EU-weit mit nur 33 Milliarden Euro gefüllt ist dürften Staatshilfen notwendig werden. Die Hilfen an Firmen, Konjunkturprogramme und Bankenrettungen ließen sich bei wegbleibenden Steuereinnahmen nur über weitere Staatsschulden bewältigen – wenn die Anleihen Käufer finden: Italien ist mit 133 Prozent, Griechenland mit 167 Prozent seines BIP verschuldet. Es droht der Staatsbankrott, sollte die EZB und der Rettungsfonds nicht auf Kosten der solventen Eurostaaten einspringen. Die EZB hat Staatsanleihen dieser Länder angekauft, um deren Marktzugang sicherzustellen. Wird das Vertrauen in den Euro langfristig halten oder wird die Corona-Krise zu einer weiteren Euro-Krise führen?





Finanzmarkt, Immobilienmarkt, Rentenfonds, Gold

Die Corona-Krise trifft die Banken zur Unzeit. Zwar sind die Eigenkapitalpuffer aufgrund staatlicher Vorgaben gestärkt, doch die Ertragslage der deutschen Institute ist schlecht. IT-Investitionen und Digitalisierung, regulatorische Vorgaben und die Online-Konkurrenz setzen schon jetzt zu. Wertberichtigungen infolge notleidender Kredite können schnell zur Überschuldung führen. Der Aktiencrash von derzeit 35 bis 40 Prozent treffen die Vermögen von Haushalten, Banken mit Vermögensanlage, Versicherungen und die Altersvorsorge. Ausbleibende Käufe auf dem Immobilienmarkt sowie Mietausfälle könnten zu rückläufigen Preisen führen. Der Goldpreis ist seit Februar von 1.650 auf 1.500 Dollar gesunken. Ein Grund ist der Depoteffekt: Um bei gesunkenem Aktienvermögen einen Ausgleich herzustellen, wird Gold verkauft. Mittelfristig könnte es angesichts sinkender Zinsen aber zu einem Anstieg des Goldpreises kommen.





Langzeitfolgen

Allein die Erinnerung, 2020 einem „Schwarzen Schwan“ (ein schwerwiegendes Ereignis außerhalb unserer Vorstellungen) begegnet zu sein, wird nachdenklicher machen, wenn auch nicht immer vorsichtiger. Selbstverständlichkeiten haben einen anderen Inhalt bekommen. Die Erfahrungen des Homeoffice werden manchen Arbeitsplatz verändern. Naht eine Zeit der De-Globalisierung, um Lieferketten sicherer zu machen? So könnte ein Rückgriff auf nationale Zulieferer oder ein „In-Sourcing“ auch zu Lasten der Exportnation Deutschland gehen. Kostenvorteile werden zukünftig eventuell anders bewertet. Auch könnte der Selbstversorgungsgrad – nicht nur bei Arzneimitteln – mehr im Fokus stehen. Schließlich dürften die Themen Flexibilität, Improvisation und die Vorteile von Einfachheit eine zunehmende Rolle spielen – fehlerfreundliche Systeme in dem Sinne, Fehler zuzulassen, mit ihnen aber jederzeit umgehen zu können.





Besonders gefährdete Branchen

Der Tourismus, der Veranstaltungssektor, der Messebau, die Luftfahrtbranche und Teile des Einzelhandels liegen brach. Werksschließungen machen der Autoindustrie zu schaffen, der Schiffahrt fehlt Ladung. Mieten und Abschreibungen, teils kreditfinanziert, laufen ohne Einnahmen weiter. Firmen, die ihre nur wenig rentablen Investitionen dank Minizinsen bei hohem Verschuldungsgrad finanzieren konnten, geraten in Schwierigkeiten. Die Autozulieferer sind besonders betroffen, da „Dieselgalte“ und der Zwang zur E-Mobilität bereits hohe Kosten verursachen. Nicht nur den Billigfliegern droht ohne Staatshilfen die Pleite. In den Häfen stapeln sich volle Containerboxen, Waren werden nicht weitergeleitet und Leercontainer fehlen. 370 Containerschiffe sind derzeit ohne Auftrag. Das entspricht neun Prozent der globalen Transportkapazität. Der Handel mit 300.000 Einzelhändlern und drei Millionen Beschäftigten ist gespalten. Während Waren des täglichen Bedarfs boomen, droht Non-Food-Anbietern bei vier Wochen Schließung die Insolvenz. Die Frühjahrsmode wird nicht verkauft und die Sommermode aus Asien kommt nicht an. Täglich geht hier ein Umsatz von 1,2 Milliarden Euro verloren. Bei einem hohen Anteil an Niedriglöhnern führt dieser Niedergang zu mehr Sozialhilfe und Wohngeld. Bei Olympia, Fußball, Konzerten und Filmstarts geht es zum Teil nur um Verschiebungen, aber die Vorbereitungen haben bereits Kosten verursacht. Schließlich kommt es zu Einnahmeausfällen der zumeist hochsubventionierten kommunalen Kultureinrichtungen: die Kassenkredite steigen weiter.





Pandemie-Strategie – es gibt zwei Alternativen

Derzeit beobachten wir zwei Strategien, mit denen auf Covid-19 reagiert wird. Dabei geht es zentral um die Frage, wie eine Herdenimmunität erreicht werden kann: Wenn genügend Menschen immun gegen den Erreger sind, findet der Erreger keine Opfer mehr und ist quasi besiegt. China, Südkorea und die meisten EU-Staaten verfolgen die Eindämmungsstrategie. Mit der weitgehenden Einschränkung des öffentlichen Lebens möchte man die Infektionskurve flach halten, um das Gesundheitswesen mit den begrenzten Intensivbetten nicht zu überfordern. Demgegenüber setzen die Niederlande auf ein immunologisches Corona-Management, auch weil auf kurze Frist kein Impfstoff bereitsteht. Vorrangig sollen sich junge und gesunde Menschen infizieren, bis ein wirkungsvoller Durchseuchungsgrad von 40 bis 80 Prozent der Bevölkerung erreicht ist. Zugleich werden gefährdete Personen besonders geschützt. Aufgrund der schnellen Verdopplung der Infektionen besteht hier die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen mit entsprechend vielen Toten, weshalb Großbritannien von dieser Strategie abgekehrt ist. Historische Beispiele für Vergleiche einzelner Regionen scheinen dies bei der Spanischen Grippe (St. Louis versus Philadelphia, 1918) und aktuell für Südkorea und Italien (Lodi versus Bergamo) zu belegen. Allerdings sind die Kosten der Eindämmungsstrategie immens: Die Folgen der Schließung von Geschäften, Betrieben, Behörden, Schulen und Universitäten werden nachhaltige Folgen haben. Konkurse und Arbeitslosigkeit verändern Biographien. Dann: Wer schließt, muß auch wieder öffnen. Und bekanntlich bleibt eine Wohlstandsvernichtung nicht ohne Folgen für die zukünftige Lebenserwartung. Bis 23. März gab es in Deutschland laut John-Hopkins-Universität 123 Corona-Todesfälle, weltweit gemeldet wurden insgesamt 16.557. Aber läßt sich das vergleichen mit den 25.100 Grippetoten in Deutschland 2017/18? Insofern sind wir Teilnehmer zweier Experimente mit ungewissem Ausgang.

Statistik der Johns-Hopkins-Universität:  coronavirus.jhu.edu





Rohstoffe: Der Ölpreis im Keller 

Angesichts des weltweiten Produktionsrückganges wird weniger Rohöl nachgefragt. Zur Stabilisierung des Ölpreises, der vor der Pandemie bei 60 Dollar pro Faß lag, strebte die Opec eine Kürzung der Fördermengen an. Rußland ließ die Verhandlungen platzen, worauf der Ölpreis auf 25 Dollar einbrach. Das trifft die US-Fracking-Branche hart, die 30 bis 40 Dollar zur Deckung ihrer kurzfristigen Kosten benötigt (JF 13/20). Da diese Unternehmen ihre Anlagen in erheblichem Umfang über Hochzinsanleihen finanziert haben, könnte die Rückzahlung schwierig werden. Dies träfe vornehmlich amerikanische und kanadische Banken.