© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Eine ständige Unruhe verbreiten
Die Flamme der Freiheit: Zu Ernst Jüngers zeitlosem Essay „Der Waldgang“
Karlheinz Weißmann

Am 15. Juli 1953, knapp einen Monat nach dem Volksaufstand in der DDR, schrieb Armin Mohler an Ernst Jünger: „Die Berliner Ereignisse des 17. Juni dürfen Sie übrigens als eine Bestätigung des ‘Waldgangs’ buchen: der Einzelne, der mit Steinen gegen Panzer vorgeht und so ein Weltreich erschüttert, hat schon etwas von einem Waldgänger.“

Mohler nahm damit Bezug auf Jüngers 1951 erschienenes Buch „Der Waldgang“ und ordnete es in einen Zusammenhang ein, der von vielen – Zeitgenossen wie Nachgeborenen – übersehen wird. Das hat vor allem damit zu tun, daß man Jüngers Waldgänger – wie vorher den Abenteurer, den Krieger, den Dandy, später den Anarchen – in erster Linie als den „trotz allem Einzelnen“ (Christian Lewalter) begreift. Das heißt als eine Gestalt, die den übermächtigen Tendenzen der Gegenwart widersteht: der Technisierung, der Nivellierung.

Tatsächlich paßt Jüngers Feststellung, daß der Waldgang nur etwas für „eine kleine, dem Automatismus gewachsene Elite“ sei, zum kulturkritischen Duktus der Zeit, ganz gleich, ob die Verteidigung des Individuums gegen die Apparate von Gottfried Benn, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Romano Guardini, Hendrik de Man oder Hans Freyer stammte. Sie alle teilten die Diagnose, daß die mit der Industrialisierung heraufbeschworene Entwicklung nicht die große Emanzipation brachte, sondern die Zerstörung der Freiheit durch „ausweglose Umstellung“. Dabei gab es ein erkennbares Schwanken zwischen der Annahme, daß die Formen indirekter Unterwerfung nach kapitalistischem Modell oder die Formen direkter Unterwerfung nach kommunistischem Modell die gefährlicheren seien. Die eine wie die andere drängte jedenfalls auf totale Erfassung – den „Termitenzustand“, sagte Jünger –, und sie verfügten über neuartige Machtmittel, dieses Ziel auch zu erreichen.

Eine Bildsprache, die enträtselt werden mußte

Deshalb war die Voraussetzung für den Waldgang, daß der Waldgänger „das Rechte (…) in sich“ fand. Der erste Schritt auf dem Waldgang hieß „Nichtbeteiligung“, womit aber kein Eremitendasein oder snobistische Isolation gemeint war. Denn Jünger betonte „die Kenntnis des mittleren Weges, den die Vernunft gebietet“ und forderte die Beherzigung der neuen „Lehre von der Freiheit des Menschen gegenüber der veränderten Gewalt“. Der Waldgänger mußte also auch die Möglichkeiten sehen, die in der Auflösung der alten Ordnungen lagen: um die naheliegende Konsequenz des Fatalismus zu vermeiden, und um zu begreifen, daß er „die Mittel und Ideen der Zeit“ verwenden konnte, wenn er „zugleich den Zugang offen hält zu Mächten, die den zeitlichen überlegen und niemals rein in Bewegung aufzulösen sind“.

Damit bezog sich Jünger auch auf seine Entscheidung für eine Bildsprache, die oft bei Andeutungen stehenblieb und von Fall zu Fall enträtselt werden mußte: Das galt schon für den Waldgang als Begriff aus den isländischen Sagas, und erst recht für den Wald selbst als Versteck der Geächteten wie als „Heiligtum“, als initiatische Stätte: „die germanischen und keltischen Wälder, wie der Hain Glasur, in dem die Helden den Tod bezwingen“.

Diese Redeweise war keine Fluchtbewegung, aber ein Ausweichen, eine Art Hakenschlagen, das Jünger in der gegebenen Lage für notwendig hielt. Denn der Waldgang sollte auch ein Handlungsvorschlag sein, nach dem Scheitern von Jüngers politischem Ansatz, der mit der „Friedensschrift“ auf die Einigung Europas abgezielt hatte. Diese Möglichkeit bestand nicht mehr. Das sah er Anfang der fünfziger Jahre nach der Verfestigung der Blockkonfrontation deutlich. Weshalb neu zu bestimmen war, wie die „Partie“ auf welchem Feld gespielt werden würde. Das Feld war das geteilte Deutschland, und als einflußreichste Spieler traten hier die USA, dort die Sowjetunion auf. Vorausgesetzt, man glaubte nicht, daß es genüge, einfach die Seite des Westens oder des Ostens zu wählen, blieb die Frage nach der deutschen Option, auf die Jünger im Waldgang eine erste Antwort zu geben suchte.

Das Volk als Schicksalsgemeinschaft

Erstaunlich ist in dem Zusammenhang, daß Jünger trotz seiner scharfen Absage an die „ranglosen Massen“ überzeugt war, daß der „Reichtum des Landes (…) in seinen Männern und Frauen“ liege, „die äußerste Erfahrungen gemacht haben“. Denn die Absicht der Sieger war es ja gewesen, sie „auf ewig zu entrechten, … zu versklaven, … durch die Aufteilung zu vernichten“; und: „Diese Prüfung war schwerer als die des Krieges.“ Sie bestanden zu haben, hieß auch, daß das Volk als Schicksalsgemeinschaft noch andere Prüfungen bestehen konnte: „Wo sich ein Volk zum Waldgang rüstet, muß es zur furchtbaren Macht werden.“ Das bedeutete nicht zwingend, eine Revanche vorzubereiten. Aber es ging doch entscheidend darum, die „gemeindeutschen Ziele“ im Auge zu behalten, schon um das Schlimmste zu verhindern: „daß deutsche Heere gegeneinander antreten“.

Kriegerische Konflikte hielt er für wahrscheinlich

Diese Bemerkung läßt deutlich erkennen, daß Jünger neue kriegerische Konflikte für wahrscheinlich hielt. Gegenüber Mohler hatte er vor der Niederschrift des „Waldgangs“ davon gesprochen, daß er einen Traktat plane, der den Titel „Über den Widerstand bei übermächtiger Aggression“ tragen sollte. Entscheidend war für ihn ein Modell, das schon nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt hatte: der Wiederaufstieg Preußens in Reaktion auf die Katastrophe von 1806, die den Anstoß zu Reform, Nationalerziehung, verdeckter Bewaffnung und dann zur Befreiung von der napoleonischen Herrschaft gegeben hatte.

Deshalb sprach Jünger jetzt davon, daß in den Reihen der Kämpfer „eine neue Idee der Freiheit Macht und Gestalt“ gewinnen müsse, um den Waldgänger mit dem Geist der Selbstverantwortung zu erfüllen und ihn auf die Guerilla vorzubereiten: „Er führt den kleinen Krieg entlang der Schienenstränge und Nachschubstraßen. Seinetwegen muß man die Truppen zur Sicherung verzetteln, die Posten vervielfachen. Der Waldgänger besorgt die Ausspähung, die Sabotage, die Verbreitung von Nachrichten in der Bevölkerung. Er schlägt sich ins Unwegsame, ins Anonyme, um wieder zu erscheinen, wenn der Feind Zeichen der Schwäche zeigt. Er verbreitet eine ständige Unruhe, erregt nächtliche Paniken. Er kann selbst Heere lähmen, wie man es an der napoleonischen Armee in Spanien gesehen hat.“

Wer die politische Lektüre Jüngers nicht aus prinzipiellen Gründen ablehnte, hat den Subtext des Waldgangs durchaus registriert. Während man auf der Linken den alten Ungeist wiederkehren sah, war man auf der Rechten unzufrieden mit dem Mangel an Deutlichkeit. Jünger nahm das kommentarlos hin, ohne seine Auffassung grundsätzlich zu korrigieren.

Das hatte sicher auch zu tun mit seiner Überzeugung von der Wirksamkeit der Autorenschaft, die sich oft auf ganz andere Weise entfaltet, als der Autor annimmt und erwarten darf. Jedenfalls berichtete ihm Armin Mohler, daß es Leute gebe, die planten, den „Waldgang“ in großer Stückzahl in die Zone zu schmuggeln, als eine Art Handreichung für den Untergrund. Daß daraus etwas geworden sein könnte, darf man bezweifeln.

Aber tatsächlich gab es nicht nur einzelne, sondern auch Gruppen, die bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre versuchten, der Opposition in den sowjetisch besetzten Gebieten von außen den Rücken zu stärken. Die Namen sind heute vergessen und ihre Vorstöße in Mißkredit geraten. Aber gelegentlich finden sich in den Archiven oder Antiquariaten Zeugnisse ihrer Umtriebe als zerknitterte Blätter auf dünnem Papier, leicht zu verstecken zwischen Seiten oder mit dem Ballon abzuwerfen über feindlichem Territorium, mit Texten für die Deutschen und die Rotarmisten, erfüllt von derselben Hoffnung, die auch den Waldgang bestimmte – „Die Flamme der Freiheit hat die versklavten Völker ergriffen“ – und markiert mit einem Signet, das an das „W“ erinnert, das Ernst Jünger als Symbol des Widerstandes vorgeschlagen hatte. 

Ernst Jünger: Der Waldgang. Klett-Cotta, 4. Aufl. 2018, broschiert, 101 Seiten, 12,95 Euro