© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Alles lief wie in einem schönen Traum
Erste Begegnungen: Besuche bei dem Jahrhundertautor Ernst Jünger in Wilflingen
Heimo Schwilk

Am 29. März feiern wir Ernst Jüngers 125. Geburtstag. 1895 im Kaiserreich geboren und 1998 in der wiedervereinigten Republik gestorben, erreichte der Autor des legendären Kriegsbuchs „In Stahlgewittern“ ein methusalemisches Alter von fast 103 Jahren. Heimo Schwilk, Herausgeber einer Bildbiographie zu Leben und Werk Ernst Jüngers sowie Verfasser einer preisgekrönten Biographie („Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben“), gehörte zu Jüngers engsten Weggefährten der späten Jahre. Von 1984 bis zum Tod des Autors am 17. Februar 1998 ging er in der Wilflinger Oberförsterei ein und aus. Schwilk stellt uns anläßlich des Jubiläums Auszüge aus seinen Tagebüchern zur Verfügung, die seine ersten Besuche bei Ernst und Liselotte Jünger dokumentieren. Heimo Schwilk arbeitete damals im Auftrag des Stuttgarter Verlags Klett-Cotta an einer Festschrift zu Jüngers 90. Geburtstag.

Wilflingen, 25. September 1984

Mit gemischten Gefühlen nach Wilflingen abgereist und mit eindeutigen zurückgekommen. Ernst Jünger, ein erstaunlicher Mensch. Keinesfalls unterkühlt, wie es immer heißt. Alles lief wie in einem schönen Traum, geradezu schnörkellos, als sei ich nicht zum ersten Mal da. Anreise von Esslingen über Tübingen, Reutlingen und quer über die Schwäbische Alb, hinunter ins Donautal bis zur Abzweigung vor Riedlingen. Dann durch eine sanft gewellte, weite Hügellandschaft mit Wiesen und Wäldern. Rückfahrt heute, einen Tag später, gegen 11 Uhr; so lange dauerte das Sichten des Fotomaterials in Jüngers Archiv, das mir viel Vergnügen bereitete. Die Masse der Bilder stammt aus dem Ersten Weltkrieg, aber es gibt auch zahlreiche Familienfotos, Dokumente der vielen Reisen und unzählige Porträts. Alles ungeordnet in Kuverts, die sich in Schubladen stapeln.

Um 18 Uhr zum Abendessen in den „Löwen“, einen Steinwurf von der Oberförsterei entfernt. Jünger kündigte per Telefon mit preußisch knappem Kommandoton unser Kommen an. Es gab Rehbraten, Spätzle, dazu Heilbronner Stiftsberg und zum Abschluß Zwetschgenschnaps. Der Wirt geleitete uns ehrerbietig zu einem Tisch am Fenster, der immer für den Wilflinger Ehrenbürger reserviert ist. Keinerlei Befangenheit, gelöste Stimmung. Die Gespräche drehten sich vor allem um Frankreich, meine Lektüre – Balzac, Maupassant, Gide, Camus, Sartre – und um François Mitterrand, der sich beim ersten Zusammentreffen mit EJ als Leser von dessen Büchern vorgestellt habe. J. erwähnte die Erinnerungsfeier in Verdun, zu der er als Veteran geladen war. Wir erörterten die deutsche Zerrissenheit in Politik und Geschichte – im Gegensatz zum französischen Selbstbewußtsein, das bis heute anhält. Zu Frankreich hat EJ, das war auch jetzt zu spüren, seit seiner ersten Reise als Schüler an die Somme ein inniges Verhältnis. 

Auch die Rolle Armin Mohlers wurde gestreift. Der Mann habe ihm viel Ärger eingebracht und als Sekretär seine Papierkörbe durchwühlt. Aber, fügte Jünger sogleich milde an, Mohler sei ein kluger Kopf, allerdings unfähig, den inneren Zusammenhang seines, also Jüngers, Werk zu sehen. Er habe sich ein Bild zurecht gelegt, das ganz auf die nationalrevolutionäre Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fixiert sei. Was man an den Universitäten über ihn, Jünger, denke? Aber eigentlich sei ihm das egal, er schreibe ja nicht für Professoren. Die FAZ wurde von ihm gelobt; er habe immer einen guten Draht zu Joachim Fest gehabt, allerdings nicht zum „Scharfrichter“ Marcel Reich-Ranicki, der habe „ein Problem“ mit ihm. Das Rezensionswesen bezeichnete er als „Unwesen“, er habe nichts damit zu tun, brauche keine „Zensuren“. 

Das Politische ist ihm fremd 

Goethe lerne er durch seine Frau Liselotte noch besser kennen; sie sei ja eine große Kennerin der Klassik und habe sogar eine Goethe-Ausgabe herausgegeben. J. erklärte, wie lange er täglich über seinen Tagebüchern sitze und daß er dabei sei, den Kriminalroman „Eine gefährliche Begegnung“ abzuschließen – ein Projekt, welches Jahrzehnte geruht habe. Er schreibe im übrigen nach dem „Lustprinzip“, es gebe für ihn „kein tägliches Pflichtpensum“. Am Schreibtisch mit der Stechuhr zu sitzen wie Thomas Mann sei ihm zu pedantisch. Meckerndes Lachen. Zwischen dem Schreiben geht er spazieren, verfaßt Briefe oder präpariert Käfer. 

Jünger hat sich offenbar vor unserem Gespräch bei Frau Jünger erkundigt, was ich so treibe. Besonders meine Reisen interessieren ihn, bei der Nennung von Marokko merkt er auf, Nord-

afrika ist sein großes Thema. Als ich im „Studio“ die Fotos und Dokumente sichte, kommt er immer wieder ins Zimmer, pfeifend und mit einem Scherz auf den Lippen, kichernd, also wolle er den Eindruck widerlegen, ein spröder Zeitgenosse zu sein. Dann verabschiedet er sich: Er müsse noch ein wenig in „Vehses Hofgeschichten“ lesen, seiner Leib- und Magenlektüre. Besonders die Skandale interessieren ihn – überhaupt ein Faible von EJ, der sich ja oft selbst skandalisiert sieht.

Frau Jünger, aus Heilbronn stammend, eine kräftige, etwas gebückte Matrone, hat bei aller Gebildetheit etwas Überwaches, auch im Umgang mit ihrem Mann, den sie gern korrigiert. Im Politischen ist sie äußerst konservativ. Jünger verläßt bei ihren Ausführungen oft das Zimmer, irgendeine dringende Tätigkeit vorschützend. Das Politische ist ihm fremd. Ich verstehe mich mit ihr auf Anhieb. Immer wieder weist sie ihren Mann darauf hin, daß ich „Maulbronner Seminarist“ gewesen sei, eine Eigenschaft, die mich in ihren Augen offenbar besonders qualifiziert. Sie fragt mich, warum Hermann Hesse die berühmte Klosterschule so fluchtartig verlassen habe. Da habe er doch eine große Chance verpaßt. Ich antwortete, Hesses Werdegang als Schriftsteller bis hin zum Nobelpreisträger habe doch auch ohne Maulbronn recht gut funktioniert. Dem schloß sich ein kurzer Exkurs der beiden über die völlige Überschätzung des Nobelpreises an, der nach rein opportunistischen Maßstäben vergeben werde. Er, Jünger, wisse gar nicht, ob er ihn annehmen würde. Als ich bemerkte, auch Hesse habe sich keineswegs gefreut, sondern gesagt, man schmeiße ihn, den alten Mann, jetzt mit Preisen tot: großes Gelächter. Hesse habe sich durch den Nobelpreis geradezu „gesteinigt“ gefühlt.

Ein schöner, erfüllter Tag. Fühlte mich zu Hause, fast wie ein Sohn angenommen. Um 20 Uhr ins „Biedermeierzimmer“, wo der Fernseher steht. J. sieht gern Tier-Sendungen und Reiseberichte; die Krimi-Serie „Columbo“ läßt er sich nicht entgehen. Wahrscheinlich amüsiert ihn die lakonische Gewitztheit des Kommissars im zerknitterten Staubmantel. Um 20 Uhr, zur Tagesschau, schaltete Jünger den „Televisor“ ein, wie er das Fernsehgerät nennt, und sagte, nun wolle er mal sehen, „welche Scheußlichkeiten heute wieder auf der Welt“ passiert seien. Noch vor dem Wetterbericht stand er abrupt auf und verließ den Raum, als habe er genug von der Welt. Kurz darauf kam er wieder herein, brummte vor sich hin, verließ den Raum, kehrte aber wenig später zurück, telefonierte und machte dabei scherzhafte Bemerkungen. Jünger genießt die Gegenwart des Besuchers, erfreut sich an der Geselligkeit.

Wilflingen, 10. Oktober

Zweiter Besuch in der Oberförsterei. Dokumente aus dem Archiv ausgewählt und zur Reproduktion nach Riedlingen gebracht. Dazwischen Plaudereien mit Frau Jünger über „Die Zwille“, in der EJ seine Kindheitsnöte ausbreitet. Ich solle aber nicht alles zum Nennwert nehmen, es sei ja ein Internatsroman, sagte sie. Als befürchte sie, ich könnte das Autobiographische in der Literatur überbewerten. Allerdings eine Klippe für jeden Biographen. Hausrundgang, fotografierte die Räume und den Garten mit seinen akkuraten Rabatten und Beeten, die von Efeu überwachsene Laube. Jünger posierte für ein Porträt am Schreibtisch und beim Schreiben von Widmungen. In das neueste Bändchen von Cot-tas Bibliothek der Moderne, „Aus der goldenen Muschel“, eines von Jüngers schönsten Reisetagebüchern, schrieb er die Widmung: „Heimo Schwilk nach seinem arbeitsreichen Tag in Wilflingen, 1.10.1984“.

Mengen, 17. Oktober

Vom Truppenübungsplatz in Mengen, wo ich einige Fallschirmabsprünge absolvierte, mit dem Kübelwagen ins nahe Wilflingen. Nachdem ich geklingelt hatte, meinte ich den Schatten von EJ am Fenster seines Arbeitszimmers gesehen zu haben. Dauerte recht lange, bis Frau Jünger öffnete. Ihr Mann sei unpäßlich meinte sie. Aber ich möge schon einmal hereinkommen. Ich hatte eine Schachtel mit Fotos dabei, die ich zurückbringen wollte. Frau Jünger führte mich ins Biedermeierzimmer, wo ich auf den Hausherrn wartete. Es dauerte ungewöhnlich lange, dann erschien EJ im Türrahmen und begrüßte mich. Daß ich den Kampfanzug eines Fallschirmjägers mit weinrotem Barett trug, übersah er geflissentlich. Zur Bundeswehr hat Jünger ein distantes Verhältnis, auch wenn Generäle regelmäßig ihre Aufwartung bei ihm machen und immer mal wieder ein Musikkorps vor der der Oberförsterei aufzieht. Ich hatte den Eindruck, meine imitatio jüngeri ging ihm zu weit: Der Biograph als Hauptmann – wie Jünger während des Zweiten Weltkriegs in Paris – mit französischem Fallschirmsprungabzeichen und Fahrer, der im Kübelwagen vor dem Haus auf seinen Chef wartet.

Als Frau Jünger sagte, mein Fahrer könne doch zum Kaffee heraufkommen, brummte Jünger zustimmend. Unteroffizier Eberhard bekam eine Tasse Kaffee gereicht und musterte den Autor des legendären Kriegsbuches „In Stahlgewittern“ unverhohlen. Schon auf der Fahrt hatte er sich als Jünger-Leser bekannt. Als Frau Jünger ihm einen Band der „Stahlgewitter“ schenken wollte, sagte Jünger überraschend „Du neigst zu Übertreibungen“ und zog sich an seinen Schreibtisch zurück. Er müsse jetzt arbeiten. Frau Jünger ließ sich wortlos abkanzeln, übergab uns aber auf dem Gang vor der Bibliothek das Buch mit dem augenzwinkernden Hinweis, von Mal zu Mal müsse sie eben ein wenig Subversion praktizieren. Leider blieb der Band unsigniert. 

Liselotte Jünger führte mich abschließend durchs Stauffenbergsche Schloß. Der Baron ist außer Haus. Schoß von dort einige Fotos von der Oberförsterei. Dann Aufnahmen von den antiken Sanduhren in Jüngers Arbeitszimmer. Auf dem Flur zeigte Frau Jünger mir einige Käferkästen, vor allem die mit den „Buprestiden“, den grünblau schimmernden Prachtkäfern. Freundlicher Abschied. Spazierte noch durch den kleinen Ort bis hinauf zum Friedhof. Gleich in der ersten Reihe beim Eingang die Gräber des 1944 gefallenen Sohnes Ernstel und Jüngers erster Frau Gretha, sorgsam gehegt und mit einem bunten Blumenflor bedeckt. Ein heller, heiterer Ort.

Heimo Schwilk (Hrsg.): Das Echo der Bilder. Ernst Jünger zu Ehren. Klett-Cotta, Stuttgart 1990, broschiert, 176 Seiten, 18 Euro

Heimo Schwilk (Hrsg.): Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Klett-Cotta, Stuttgart 2010, gebunden, 336 Seiten, 60 Euro

Heimo Schwilk: Ernst Jünger – Ein Jahrhundertleben. Klett-Cotta, Stuttgart 2014, gebunden, 648 Seiten, 25 Euro




Dr. Heimo Schwilk, Jahrgang 1952, Journalist und Buchautor, war unter anderem leitender Redakteur der Welt am Sonntag.