© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Identitätspolitik fördert Diskriminierung
Wir können stolz sein auf uns
Laila Mirzo

Selbsthaß statt Selbstbewußtsein und Stolz, Scham statt Ehre. Das beschreibt das moderne „Deutschsein“ in der Merkel-Ära. Und ich befinde mich mitten in dieser Sinnkrise einer Nation. Als Tochter eines syrisch-kurdischen Vaters, in Damaskus geboren und mit einer Kindheit auf den Golanhöhen, lernte ich von den Beduinen, daß Stolz und Ehre den Menschen zum Menschen machen und das Fundament seiner Würde sind. Als ich mit meiner deutschen Mutter zurück nach Deutschland kam, lernte ich in der Schule, daß Stolz und Ehrgefühl in Deutschland „belastet“ wären, wer stolz sei, würde sich über andere erheben. Stolz wäre eine „schlechte“ Charaktereigenschaft.

Je akzentfreier mein Deutsch wurde, desto mehr wurde von mir erwartet, „deutsch“ zu sein. Und ich spreche hier nicht von Integration. Deutsch sein bedeutet, sich schuldig zu fühlen. Kurzum, es war der Tag, an dem ich Hitler erbte.

Und ja, ich war eine gute Deutsche, ich habe mich geschämt für Taten, die ich nicht begangen hatte. Ich habe die Schuld auf mich genommen. Doch es hörte nicht mit Hitler auf. Ich mußte auch lernen, mich für die Kolonialzeit zu schämen, für all das Unrecht, welches jemals unter einer deutschen Fahne begangen wurde. Aber auch hier hörte es nicht auf. Ich mußte mich für die Verbrechen der „Weißen“ schämen, für die Unterdrückung und Ausbeutung indigener Völker. Ich wollte ein guter Mensch sein, also habe ich mich geschämt. Aber es wollte nicht aufhören. Also trug ich auch die Schuld der Kirche mit all den Verbrechen der letzten Jahrhunderte: Zwangsmissionierung, Hexenverbrennung und Inquisition. Ich fühlte mich schuldig und habe mich geschämt. Bis ich endlich den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung begriff.

Schuld kann man nur an etwas haben, was man selbst durch sein Tun oder Nichttun verschuldet hat. Dafür kann man dann zur Rechenschaft gezogen werden. Dafür kann man bestraft oder entschuldigt werden. Eine Schuld kann man nicht vererben oder übertragen. Und wenn, dann trägt der „Nachfolger“ nicht länger die Schuld, sondern eine Verantwortung. Für mich definiert sich diese Verantwortung dadurch, daß ich mich mit all meiner Kraft und Möglichkeiten gegen jegliches Unrecht stelle. Also habe ich mich entschieden, mich nicht länger zu schämen oder mich schuldig zu fühlen, sondern mit Stolz diese Verantwortung zu tragen; aufrecht und mit erhobenem Haupt den Sieg meiner Vorfahren über die eigene Barbarei weiterzutragen.

Seit Jahren wird eine intensive „Identitätspolitik“ betrieben, die zu einer zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft führt. Alleinerziehend schlägt Familie, schwul schlägt hetero, Frau schlägt Mann, Islam schlägt Christentum, Divers schlägt sie alle.

Was ich auch gelernt habe ist, daß Deutschland an einer ausgeprägten Schizophrenie leidet. Deutschland definiert, was gut und was böse ist, aber das gilt nicht für alle Menschen. Deutscher Stolz ist böse, arabischer Stolz ist gut. Sexismus durch westliche Männer ist böse, Sexismus durch islamische Männer ist „Kultur“. Deutschland verurteilt Antisemitismus, verschließt aber die Augen vor dem islamischen Judenhaß. Es gedenkt der toten Juden, schert sich aber einen Dreck um die Juden, die unter uns leben. Deutschland bekennt sich zum Existenzrecht Israels als deutsche Staatsräson, hofiert aber dessen größten Feind, den Iran. Wer diesen kognitiven Spagat nicht schafft oder nicht mitmachen will, macht sich mindestens „verdächtig“ oder muß sich als „rechter Paria“ selbst in die Ecke stellen.

Seit Jahren wird eine intensive „Identitätspolitik“ betrieben, die zu einer zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft führt. Unsere Kinder bekommen nicht mehr beigebracht, daß sich Leistung und Fleiß lohnen, sondern wer das größte „Opfer“ ist, kommt weiter. Alleinerziehend schlägt Familie, schwul schlägt hetero, Frau schlägt Mann, Islam schlägt Christentum, Divers schlägt sie alle.

Es geht vielerorts nicht mehr um das Individuum, sondern um Randgruppen-Kollektive. Und gerade dies schließt Menschen aus und fördert Diskriminierung. Als Frau mit Migrationshintergrund werde ich an erster Stelle nicht nach meinen Fähigkeiten und Qualifikationen bewertet, sondern nach meinem Geschlecht und ethnischen Background. Als Frau kann ich die „Frauenquote-Karte“ spielen: Bei gleicher Eignung werde ich einem männlichen Bewerber vorgezogen. Was hat das mit Gleichberechtigung zu tun? Und was ist mit den Rechten der Männer?

Quoten werden mittlerweile auch für Migranten gefordert, und zwar explizit für Funktionen in der Politik. So gibt es Vorschläge, Parteien könnten auf ihren Wahllisten Quoten für Menschen mit Migrationshintergrund einführen. Unternehmen gehen Selbstverpflichtungen ein, um den Anteil migrantischer Mitarbeiter in Führungspositionen zu erhöhen. Auch bei Polizei und Militär sind ethnische Quotenregelungen ein großes Thema. Ob in der Werbung, im Film oder in sozialen Projekten, das Sichtbarmachen von Minderheiten wird mehr und mehr zur zentralen Agenda.

Dabei scheint niemandem in den Sinn zu kommen, daß diese Vorgehensweise alles andere als „integrativ“ ist. Ganz im Gegenteil, es macht die Unterschiede sichtbar, die angeblich keine Unterschiede mehr sein dürften. Es wird ein Keil zwischen uns gerammt, es kommt auf die Unterschiede an und nicht auf die Gemeinsamkeiten. In dieses Horn bläst auch die amerikanische Soziologin Robin DiAngelo, die an der University of Washington in Seattle lehrt und Kurse zu Antirassismus gibt. Bei einem Vortrag im März 2019 sagte DiAngelo, daß „Weiße, die ihre Mitmenschen eher als Individuen ansehen und nicht aufgrund ihrer Hautfarbe beurteilen, wirklich gefährlich sind“.

Reflexartig kommen einem beim Lesen dieser intellektuellen Bankrotterklärung die Worte des Bürgerrechtlers Martin Luther King in den Sinn: „Ich habe einen Traum, daß meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden. Ich habe einen Traum!“

Diesen Traum müssen wir weiter träumen, denn die Politische Korrektheit hat eine neue Form des Rassismus geboren.

Die Reduzierung der Minderheiten auf ihre „Eigenschaft als Minderheit“ ist ein höchst bedenklicher, wenn nicht ein gefährlicher Trend. Wenn nicht länger der Mensch im Vordergrund steht, sondern, daß er schwarz, schwul, transgender oder jüdisch ist, ist es doch eine ziemlich oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Individuum, die niemandem gerecht werden kann. Und dennoch erleben wir einen fortschreitenden Rückbau des zivilisatorischen Akts der Toleranz und der Gleichheit vor dem Gesetz. Es darf doch keine Rolle spielen, ob ich ein schwuler Fußballer bin, sondern daß ich ein guter Fußballer bin. Bin ich ein „behinderter“ oder ein „türkischstämmiger“ Autor, oder bin ich ein guter Autor, der spannende Bücher schreibt?

Es wird ständig mit zweierlei Maß gemessen. Hätte die deutsche Punkrock-Band Die Ärzte in ihrem Song „Abschied“ die Liedzeile „Los komm, wir sterben endlich aus, denn das ist besser für die Welt“ auch an ein afrikanisches Publikum gerichtet? Wohl kaum.

Mich erinnert die ganze Diskussion an George Orwells „Farm der Tiere“, wo es heißt: „Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen.“ In einer Gesellschaft, die den Anspruch darauf erhebt, zivilisiert zu sein, darf es dieses Prinzip nicht geben. Nicht in die eine und nicht in die andere Richtung. Zur Gleichberechtigung und Gerechtigkeit gehören alle. Das gilt für „People of Colour“, und das gilt für „Weiße“.

Doch nicht alle sehen das so. Die von Anetta Kahane, einer Ex-Stasi-Zuträgerin mit dem Decknamen „Victoria“, geführteAmadeu-Antonio-Stiftung in Heidelberg, schreibt auf ihrer Homepage: „In Deutschland schafft Rassismus vielfältige Privilegien für weiße Deutsche, weshalb es auch keinen Rassismus gegen weiße Deutsche geben kann“. Die „Deutschfeindlichkeit“ an vielen Schulen mit einem hohen Migrantenanteil ist sicherlich nicht im Fokus von Frau Kahane, denn es heißt weiter: „Weiße Deutsche müssen sich und ihre Herkunft nicht erklären oder rechtfertigen und dürfen sich als ‘normal’ verstehen – ohne daß das hinterfragt wird.“

Auch hier scheint die Amadeu-Antonio-Stiftung blind zu sein, wenn es um anti­deutsche Strömungen innerhalb der radikalen Linken geht. Es wird stetig mit zweierlei Maß gemessen, und das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Hätte die deutsche Punkrock-Band Die Ärzte in ihrem Song „Abschied“ die Liedzeile „Los komm, wir sterben endlich aus, denn das ist besser für die Welt“ auch an ein afrikanisches Publikum gerichtet? Wohl kaum.

Bei all der Selbstkritik, die nicht selten in Selbsthaß mündet, können wir doch mit gutem Gewissen stolz sein auf uns. Schon oft haben wir aus eigener Kraft unsere eigene Barbarei überwunden. Die Errungenschaften der Frauenbewegung wären ohne die Unterstützung der Männer doch gar nicht möglich gewesen. Diesen Schritt mußten wir gemeinsam gehen. Auch die Schwulenbewegung oder der Freiheitskampf der schwarzen Menschen wären ohne die Akzeptanz und den Respekt in der Gesellschaft nicht möglich gewesen. Es ist ein Sieg von uns allen!

Wer sich mit den Begriffen Stolz und Ehre schwertut, kann sich dem Thema auch philosophisch nähern, dann kann in Zukunft vielleicht ein kollektives Selbstbewußtsein erwachsen, das wir gerne an unsere Kinder weitergeben. Denn es ist höchste Zeit, unser kulturelles Erbe vor der Plünderung durch Moralisten und Meinungsinquisitoren zu bewahren. Hierzu weist auch der polnische Botschafter in Berlin, Andrzej Przy??bski, in einem Interview im aktuellen Cato-Magazin (Nr. 2, März 2020) auf die Dringlichkeit einer Reform der Europäischen Union auf Basis „traditioneller Werte“ wie Religion, Familie oder Nation: „Es geht um die kulturelle Identität und damit um den Erhalt der zivilisatorischen Werte Europas.“






Laila Mirzo, 1978 in Damaskus geboren, lebt heute, nach Stationen in Passau, Linz und Wien, mit ihrer Familie in Berlin. Als Schriftstellerin und freie Publizistin (Jüdische Rundschau, NZZ) warnt sie vor den Gefahren eines fundamentalistischen Islam. In Österreich konvertierte sie vom Islam zum Christentum. Ihr Buch „Nur ein schlechter Muslim ist ein guter Muslim. Über die Unvereinbarkeit des Islam mit unserer Kultur“ erschien 2018 im Riva-Verlag der Münchner Verlagsgruppe.

Foto: Der US-amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King in Washington: „I have a Dream“, rief er Ende August 1963 den 250.000 Demonstranten von der Lincoln-Gedächtnisstätte zu. Er forderte Gleichberechtigung, nicht Übervorteilung.