© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Im Westen kein Kampf bis zum Letzten
Die Schlacht um den Ruhrkessel im April 1945: Anders als von Hitler befohlen, wurde die letzte Schlacht gegen die Amerikaner und Engländer nicht mehr mit fanatischer Unerbittlichkeit geführt
Dag Krienen

Am 15. April 1945 notierte Lieutenant A. J. Duplantier Jr. von der 99. US-Infantriedivision in seinem Tagebuch, daß sich seine Einheit immer mehr deutschen Soldaten gegenübersah, die sich ergeben wollten, „und zwar in solcher Anzahl, daß es unmöglich ist, sie zu zählen. Sie kamen in jeder Art von Fahrzeug der deutschen Armee. Sie liefern alles intakt ab, von Pistolen bis zu 24-cm-Haubitzen. (...) Es war ein tolles Bild. Die Deutschen waren über die Gelegenheit, sich ohne weiteres Blutvergießen ergeben zu können, derart glücklich, daß einige von ihnen dem eindringenden Feind tatsächlich zuwinkten. Dies ist wahrhaftig ein Zeichen von Unterwerfung und Kapitulation, ganz anders als der Geist, in dem sie ihren Dezemberangriff unternahmen. Sie sind ein geschlagener Haufen und sehr bereit, mit der ganzen Sache Schluß zu machen, wenn sie lebend davonkommen können.“

Die Wehrmacht hatte zuvor an der Reichsgrenze noch zähen Widerstand geleistet und im Dezember 1944 im Zuge der Ardennenoffensive den Briten und Amerikanern sogar eine böse Überraschung bereitet. Selbst nach deren Scheitern konnten diese die Wehrmacht nur unter hohen Verlusten in monatelangen Gefechten (Hürtgenwald, Rurtal) zurückdrängen und schließlich zur Rheinlinie durchstoßen. Nach der Überschreitung des Flusses in der zweiten Märzhälfte versprach der britische Marschall Bernard Montgomery seinen Truppen allerdings, daß die Deutschen nun „keine frischen und kompletten Divisionen [mehr] im Rücken“ haben. „Alles, was der Feind noch tun kann, ist, Straßen und Wege zu blockieren mit Einheiten, die aus Kriegsschulen, Badeeinheiten [Erholungsheimen], Taubenschlägen [Veterinäreinrichtungen] bestehen.“

Das war zwar etwas übertrieben, aber nach dem Übergang über den Rhein stellten die alliierten Soldaten rasch fest, daß der Kampf gegen die einst gefürchtete Wehrmacht nur noch wenige Risiken bot. Briten und Amerikaner konnten zu einem Bewegungskrieg in bester „Blitzkrieg“-Manier übergehen. Aus den Brückenköpfen bei Wesel und bei Remagen stießen sie innerhalb von acht Tagen in einer weit ausholenden Zangenbewegung vom Rhein nach Lippstadt vor und kesselten am 1. April das Ruhrgebiet samt Sauerland ein. US-Truppen von drei Armeen, zu denen auch die 99. Infanteriedivision gehörte, wurden vom 1. bis zum 21. April 1945 zur Abriegelung und zum Ausräumen („Mopping up“) des Ruhrkessels (110 Kilometer in West-Ost- und 85 Kilometer in Nord-Südausdehnung) abgestellt (zur Chronologie der Kämpfe siehe auch Beitrag von Willi Mues in JF 16/05). Der westalliierte Hauptstoß ging indes in Richtung Norddeutschland, Elbe und Thüringen weiter. 

Die Widerstandskraft der Wehrmacht war erlahmt

Auf den ersten Blick stellte die eingekesselte deutsche Heeresgruppe B unter Feldmarschall Walter Model, einem Experten für Abwehrschlachten, Anfang April noch eine beachtliche Streitmacht dar. Doch besaßen von den rund 320.000 Soldaten (inklusive Volksturm) nach neueren Schätzungen nur 75.000 eine vollständige infanteristische Bewaffnung. Der Rest mußte sich, wenn überhaupt, mit wenigen alten sowie Beutewaffen aus den Arsenalen, Panzerfäusten sowie Pistolen begnügen. Bei den auf dem Papier noch vorhandenen 21 Divisionen handelte es um abgekämpfte und ausgeblutete, oft zu bloßen „Kampfgruppen“ geschrumpfte Verbände, die mit ihren gut ausgerüsteten, reichlich mit Munition versorgten und vollmotorisierten Pendants auf amerikanischer Seite nicht zu vergleichen waren. 

Die kampfkräftigsten deutschen Einheiten und die meisten Panzer waren schon lange zuvor an die Front an der Oder und vor allem nach Ungarn verlegt worden (JF 52/19). Das von den alliierten Luftstreitkräften in Form von massiven Schlägen gegen die Verschiebebahnhöfe und Eisenbahnbrücken durchgeführte „Ruhrabriegelungs-Programm“ (16. Februar bis zum 20. März 1945) hatte zudem das Revier bereits vor der Einkesselung zu Lande von allen wichtigen Verkehrsverbindungen abgeschnitten. Das in den Depots noch vorhandene Kriegsmaterial erreichte die Fronttruppen nicht mehr. Laufende Tieffliegerangriffe und Treibstoffmangel schränkten Bewegungs- und Operationsfähigkeit der wenigen noch halbwegs kampfkräftigen deutschen Verbände massiv ein.

Das von Wasserwegen und Bahndämmen durchzogene und mit den Trümmern von Gebäuden und riesigen Industriebetrieben durchsetzte Städtekonglomerat an der Ruhr hätte an sich von einem fest entschlossenen Verteidiger in ein nur schwer bezwingbares Bollwerk verwandelt werden können. Doch spätestens nach dem Rheinübergang der Alliierten war die Kampfmoral der deutschen Soldaten auf dem Nullpunkt angekommen. Die militärische Überlegenheit der Feinde zu Lande und zu Luft war zu groß geworden; Hoffnung, dem Krieg noch irgendeine Wende geben zu können, gab es nicht mehr. 

Der Verfasser der ersten veröffentlichten Studie zum Ruhrkessel, Carl Wagener, der letzte Chef des Generalstabes der Heeresgruppe B, urteilte 1957, daß der „Sinnlosigkeit weiteren Widerstandes nach dem Zusammenbruch der Rheinverteidigung (...) durch nichts mehr einen Sinn gegeben werden konnte. (...)Die Truppe hat darum zum Schluß in berechtigter Selbsthilfe nicht mehr gekämpft, sondern nur noch Scheingefechte geführt.“ 

Hitler erklärte den Kessel zwar zur „Raumfestung Ruhr-Sauerland“ und befahl dessen fanatische Verteidigung bis zum letzten Mann. Doch nur einzelne Verbände leisteten am Südrand des Ruhrgebietes und im Sauerland noch stärkeren Widerstand und verzögerten einzelne amerikanische Vorstöße. Eine Gesamtkoordination der deutschen Aktionen und eine zusammenhängende Abwehr wurde durch die feindlichen Schläge immer mehr verunmöglicht. Viele höhere Befehlshaber, darunter auch Model, verloren jeden Kontakt zu den ihnen unterstellten Verbänden. Die vollmotorisierten Amerikaner nutzten dies aus. Am 14. April spalteten sie durch einen Vorstoß auf Hattingen und Hagen den Ruhrkessel in zwei Teile. Im rasch schrumpfenden Westkessel waren die meisten Großstädte an der Ruhr zuvor schon praktisch kampflos in die Hände der Amerikaner gefallen. Die im östlichen Teil des Kessels eingeschlossenen deutschen Truppen streckten am 16. April die Waffen.

Um eine förmliche Kapitulation zu vermeiden, entschied sich Feldmarschall Model, jeden Widerstand einstellen zu lassen, die Heeresgruppe B mit Wirkung zum 17. April aufzulösen und ihre sehr jungen und ihre älteren Mitglieder aus der Wehrmacht zu entlassen, während dem Rest freigestellt wurde, sich zu ergeben, auf eigene Faust nach Hause durchzuschlagen oder in Kleingruppen den Ausbruch zu wagen. Im Westkessel endete am 18. April im Raume Duisburg-Düsseldorf der letzte organisierte Widerstand; mit von allen Nachrichtenverbindungen abgeschnittenen Soldaten gab es noch bis zum 21. April kleine Scharmützel. Model beging an diesem Tag in einem Waldgebiet bei Ratingen Selbstmord. 

Die Schlacht um die Ruhr war nicht nur ohne schwere Kämpfe zu Ende gegangen, sondern in Vergleich mit den anderen großen Schlachten in der Endphase des Zweiten Weltkrieges wie der um Berlin (mehr als 100.000 tote Soldaten auf beiden Seiten und gut 100.000 getötete Zivilisten) relativ „unblutig“ verlaufen. Die Amerikaner verloren rund 1.500 Tote und 8.500 Verwundete und Vermißte; auf deutscher Seite waren es etwa 12.000 durch Bodenkämpfe und Luftangriffe getötete Soldaten und Zivilisten. 317.000 Männer gerieten trotz Models formellen Entlassungen in Kriegsgefangenenschaft und wurden als „Disarmed Enemy Forces“ in die unwirtlichen Rheinwiesenlager (JF 03/11) verbracht. 

Zusätzliche Zerstörungen im Ruhrgebiet vermieden

Dem bedeutendsten Industriegebiet Deutschlands waren zudem weitere Zerstörungen erspart geblieben. Hitler hatte zwar noch im sogenannten Nero-Befehl vom 19. März 1945 angeordnet: ,,Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“ Doch verweigerten sich fast alle deutschen Unternehmer und Arbeiter, viele Bürokraten, Offiziere und sogar mancher NS-Funktionär einer derartigen totalen Selbstvernichtung ihrer Lebensgrundlagen. Sie sabotierten, umgingen oder „interpretierten“ den  zerstörerischen Nero-Befehl auf ihre Weise; zurückgelassene Notbelegschaften verhinderten weitere Zerstörungen und übergaben die Betriebe den einrückenden Amerikanern kampflos.

Diese waren ihrerseits nicht auf weitere Vernichtung aus. Der amerikanische Kriegsminister Henry L. Stimson hatte sich Anfang April 1945 explizit für eine „schonende“ Besetzung des durch den Bombenkrieg bereits stark genug in Mitleidenschaft gezogenen Industriegebietes eingesetzt. Die Alliierten dachten bereits an die Nutzung der Ressourcen des Ruhrreviers für die Zeit nach dem Kriegsende, zur Versorgung sowohl der Besatzungsmächte als auch der deutschen Bevölkerung mit Kohle und Stahl. 

Die im Bombenkrieg mehr oder weniger schwer getroffenen Zechen, Hütten, Stahlwerke und andere Industrieanlagen erlitten so keine weiteren Schäden durch Bodenkämpfe. Nur in jenen kleineren Städten am Rand des Ruhrgebiets, wo die Amerikaner auf stärkeren Widerstand stießen, gab es noch Zerstörungen. Das wichtigste Industriegebiet Deutschlands überstand damit den Krieg, wenn auch durch den Luftkrieg zuvor schwer in Mitleidenschaft gezogen, ohne jene gigantischen Zerstörungen, die in vielen anderen „Festungen“ der gnadenlose „Endkampf“ auf dem Boden mit sich gebracht hatte. 

Die Zechen, deren Fördereinrichtungen durch die Bomben oft nur wenig beschädigt worden waren, blieben sogar relativ intakt. Die meisten Betriebe „über Tage“ hatten im strategischen Luftkrieg zwar verheerende Gebäudeschäden hinnehmen müssen, aber doch aus den Trümmern eine erstaunliche Anzahl von Werkzeugmaschinen bergen können. Die Zerstörungen an den Verkehrswegen und der Infrastruktur sollten sich als das Haupthindernis beim Wiederaufbau des Wirtschaftslebens erweisen. Doch insgesamt war an der Ruhr ein wichtiger Kern für den späteren Wiederaufstieg Westdeutschlands zum Industrieland erhalten geblieben.