© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Deutsche Trendwende zurück zur Vormoderne
Politik im Sog der Moral
(dg)

Für den „Systemtheoretiker“ Niklas Luhmann (1927–1998), einen der Meisterdenker der Bonner Republik, zeichnet sich die Moderne durch strikte Trennung gesellschaftlicher Bereiche aus. Darin liege ihr entscheidender zivilisatorischer Fortschritt. Für Politik, Recht, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Künste gelten jeweils autonome Spielregeln, „Funktionscodes“. So folgt etwa die Wissenschaft der Unterscheidung „wahr – falsch“, die Kunst funktioniert nach „ästhetisch – nicht ästhetisch“, die Politik nach „Macht – keine Macht“. In der Vormoderne wurde hingegen der religiös determinierte Funktionscode der Moral, „Achtung – Mißachtung“ auf alle anderen „Leistungsbereiche“ übertragen. Eine unliebsame Erkenntnis oder eine Oppositionspartei konnte nach diesem der Wissenschaft oder der Politik systemfremden Schema verketzert und verfolgt werden (zeitzeichen, 2/2020). Der Theologe Horst Gorski, Leiter im EKD-Kirchenamt, sieht heute in der Moralisierung aller gesellschaftlichen Bereiche einen tendenziellen Rückfall in die Vormoderne und eine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat. Befördert von der digitalisierten Kommunikation, die Sachfragen rasch personalisiere und moralisiere, würde die Vernunft der Funktionscodes außer Kraft gesetzt. Hier liege der Grund für die erhebliche Polarisierung, die die deutsche Gesellschaft seit Jahren präge. 


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