© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Nur eine infame Propagandalüge
Als zentrale Quelle für die Völkermordthese an den Herero gilt das britische „Blaubuch“ von 1919
Gregor Maurer

Der Kolonialkrieg gegen die Herero von 1904 wird in Deutschland zunehmend als ein vermeintlich erster systematischer Völkermord im 20. Jahrhundert und somit als direkter Vorläufer der nationalsozialistischen Rassenideologie und des Holocausts interpretiert. Die Fakten scheinen unumstößlich zu sein. Doch ist dem wirklich so?   

Insgesamt gehen so gut wie alle Darstellungen mittlerweile von den gleichen angeblichen Opferzahlen aus: Von etwa 80.000 Herero hätten nach dem Krieg 1904 bis 1907 nur noch gut 15.000 gelebt. Eine genaue Zahl der Todesopfer des Hereroaufstandes ist jedoch nicht bekannt, da es vor 1904 nie eine Volkszählung gegeben hatte. Zudem ist zu bemerken, daß es sich bei den für 1904 häufig angegebenen 80.000 Menschen um ungenaue und sehr großzügige Schätzungen von Missionaren handelt, da diese gerne ihre Gemeindezahlen viel zu hoch ansetzten, um so mehr Gelder zu erhalten. Der deutsche Gouverneur Theodor Leutwein schätzte die Zahl der bewaffneten Hereros im März 1904 lediglich auf 3.500 bis 4.000, seriöse Hochrechnungen kommen so auf eine Gesamtzahl von ungefähr 35.000 bis 45.000 Hereros vor den Kämpfen. 

Insgesamt zählte man 1905 rund 24.000 Stammesangehörige der Hereros, zusätzlich waren rund eintausend ins damalige britische Betschuanaland geflohen und mehrere tausend nach Norden zu anderen Stämmen. Alle Zahlenangaben zu den Verlusten der Hereros sind also reine Spekulationen. 

Das „Blaubuch“ war reine britische Propaganda

Dennoch war die Bilanz des Krieges durchaus dramatisch: Schließlich waren viele Hereros umgekommen. Und sicherlich handelt es sich – aus heutiger Sicht – um ein äußerst hartes, ja brutales Vorgehen der deutschen Schutztruppe gegenüber den Hereros, die neben den zahlreichen Opfern auch den Verlust fast ihres gesamten Viehbesitzes zu beklagen hatten. Wir würden heute sicherlich von einem Kriegsverbrechen sprechen. Warum aber haben die nicht eindeutig zu belegenden Opferzahlen mittlerweile ohne kritisches Hinterfragen auch in zahlreichen Schulbüchern Einzug gehalten und vermitteln somit in Form verkürzter Darstellungen einseitige Schuldzuweisungen? 

Die häufig angegebenen Zahlen beruhen auf dem im August 1918 erschienenen britischen „Blaubuch“, dessen einzige propagandistische Absicht es war, zu beweisen, daß Deutschland „nicht in der Lage“ sei, Kolonien zu unterhalten und somit den Alliierten einen offiziellen Vorwand zu liefern, diese sich selbst einzuverleiben. So ist in diesem Pamphlet unter anderem von täglichen massenweisen Erschießungen von Herero-Frauen und sogar Kindern die Rede. Auf fast jeder beliebigen Seite finden sich im „Blaubuch“ Verleumdungen, Lügen und Fehler, da es galt, vermeintliches Beweismaterial gegen die Deutschen zu sammeln, nicht aber die Wahrheit zu ermitteln und diese objektiv darzustellen. In südafrikanischen Archiven existieren Berichte, die verdeutlichen, daß der ursprüngliche Inhalt dieses Blaubuches sogar nachträglich so gekürzt wurde, um diesen auf propagandistischer Ebene noch wirksamer zu gestalten. Aber schon 1919 wurde es im Rahmen der Versailler Friedensverhandlungen von den Verhandlungsteilnehmern ignoriert und nicht mehr gegenüber den Deutschen als Diffamierungswaffe genutzt. 1926 wurde es dann endgültig als Kriegspropaganda entlarvt, anschließend offiziell von der britischen Regierung zurückgezogen und vernichtet. 

Der DDR-Historiker Horst Drechsler übernahm jedoch – nach staatlich-parteipolitisch gewünschter Vorgabe – in seinem 1966 erschienenen Propagandamachwerk des Kalten Kriegs „Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft – Der Kampf der Hereros und Namas gegen den deutschen Imperialismus“ ungeprüft die Inhalte dieses Blaubuchs. Sowohl beim britischen Blaubuch wie auch bei Drechslers Buch handelt es sich also um zweckgerichtete Konstruktionen, die unbedingt in ihrem zeitlichen Kontext zu betrachten sind.

Leider werden derartige historische Rahmenbedingungen heute oft ignoriert und vielmehr die Inhalte dieser Publikationen ungeprüft und unhinterfragt übernommen. So vertrat beispielsweise der Historiker Jürgen Zimmerer „Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen“ von 2003 die These, der Krieg gegen die Herero sei der Ausgangspunkt und der Ursprung der nationalsozialistischen Vernichtungskriege im Osten und des Holocaust gewesen. Ungeachtet des wegen mangelnder Quellenkritik wissenschaftlich zu beanstandenden Werkes ebenso wie seinem späteren, noch zugespitzteren Buch „Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust“ konnte Zimmerer trotz oder vielleicht gerade wegen seiner steilen Thesen an der Universität Hamburg 2010 einen Lehrstuhl für die „Geschichte Afrikas“ ergattern und leitet seit 2014 sogar die „Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe“. Sein Wikipedia-Eintrag weist ihn damit sogar als einen der vermeintlich „führenden Kolonialismus- und Genozidforscher in Deutschland“ aus.

Im Gegensatz dazu verweisen Historiker wie Robert Gerwarth (Dublin) und Stephan Malinowski (Edinburgh) darauf, daß eine auf die deutsche Entwicklung konzentrierte Kontinuitätsthese, die eine Verbindung von Südwestafrika bis hin zum Holocaust vertritt, erhebliche Schwächen habe. 

Brutaler Kolonialkrieg, aber kein Völkermord

Insgesamt ist jedenfalls zu konstatieren, daß die Quellenbasis für eine Version des Hererokriegs als Völkermord mehr als dürftig ist. Eine auf Propagandapublikationen wie dem britischen Blaubuch basierende bewußte Konstruktion eines Genozids, der ein Vorläufer des nationalsozialistischen Holocausts gewesen sei und zu diesem in Kontinuität stehe, ist also völlig deplaziert. 

Zu betonen ist vielmehr die Kriegsführung des in Südwestafrika mehr als umstrittenen Generals Lothar von Trotha, dessen brutales Vorgehen nicht nur viele Schutztruppenoffiziere entsetzte, sondern auch im Deutschen Reich selbst zu massiver Kritik bis in konservative Kreise führte. Von Trotha sprach zudem im Generalstabsbericht von 1906 verhängnisvollerweise davon, daß die Herero aufgehört hätten, ein selbständiger Volksstamm zu sein. Dies ist natürlich ein Satz, der gern als Beleg für einen vermeintlichen Völkermord herangezogen wird.

Der Krieg gegen die Hereros ist im Kontext der kolonialen Globalisierungsphase Ende des 19. Jahrhunderts zu betrachten. Er läßt sich also eher als ein klassischer Kolonialkrieg einordnen, der sich einreiht in die Auseinandersetzungen der Engländer, Franzosen oder Belgier in der Hochphase des Imperialismus, statt als Beispiel für einen rassistischen Genozid, der die Grundlage für die Verbrechen des Nationalsozialismus bildete. Bei aller Grausamkeit handelte es sich um eine militärische Auseinandersetzung, wie sie in diesen Zeiten in den Kolonien der europäischen Großmächte gang und gäbe waren.

Zu erwähnen wären hier auch Italiens gescheiterter Eroberungskrieg gegen Äthiopien 1895/96 und selbst die beiden Burenkriege der Briten 1880/81 und 1899 bis 1902. Gerade im letzteren wurde unter General Lord Kitchener eine Politik der verbrannten Erde praktiziert und in Konzentrationslagern 120.000 Buren (vor allem Frauen und Kinder) interniert, von denen über 26.000 Menschen starben. Die fünf Achanti-Kriege Englands im heutigen Ghana zwischen 1824 und 1901 oder die blutige Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes im Sudan bis 1899 lassen sich ebenfalls anführen. Dabei wurde die kompromißlose und brutale Kriegsführung auch als Beleg der technischen Überlegenheit gesehen: „Whatever happens, we have got the Maxim gun, and they have not“, wie es der Journalist Hilaire Belloc zynisch auf den Punkt brachte. Und selbst noch 1952 bis 1961 wurden im Unabhängigkeitskampf Kenias (Mau-Mau-Aufstand) von britischen Einheiten rund 90.000 Einheimische hingerichtet, gefoltert oder verstümmelt. 

Man kann also durchaus von einer Einheit des neuzeitlichen westlich-europäischen Kolonialismus auch in seinen rassistischen Vorstellungen ausgehen, die zu dieser Zeit Konsens darstellten. Dementsprechend weist die Eskalation von Konflikten wie im Verhältnis zu den Hereros deutliche Parallelen zu anderen Kolonialmächten auf. Die deutsche Kolonialpolitik bildete somit nur einen Teil eines welthistorischen Vorgangs dieser Epoche.