© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Beschleunigt uns Corona?
Digitalisierung: Das öffentliche Leben ist weitgehend eingeschränkt. Welche Chancen bietet die Vernetzung?
Björn Harms, Karsten Mark, Christian Schreiber, Hermann Rössler

Im Jahre 1665 legte eine Pestepidemie den Süden Englands komplett lahm. In London herrschte das blanke Chaos, beinahe ein Fünftel der Bevölkerung raffte die Seuche dahin. In der Universitätsstadt Cambridge, nur 60 Meilen nördlich der Hauptstadt, hatte man vorsorglich Maßnahmen ergriffen. Der Lehrbetrieb wurde eingestellt. Unmittelbar davon betroffen war auch der 22jährige Student Isaac Newton. Er begab sich selbst in Quarantäne, siedelte zwei Jahre lang um ins Elternhaus in der Kleinstadt Woolsthorpe-by-Colsterworth und grübelte so vor sich hin. Was Newton offenbar so lange tat, bis ihn der Legende nach reifes Fallobst unter einem Apfelbaum auf eine Idee brachte. Den Rest kennt jeder. Newton also ist der Beweis: Gerade in schlechten Zeiten fühlt sich die Innovation pudelwohl. Gilt das auch noch heutzutage? Der Deutschland-Chef des Telekommunikationsanbieters Vodafone jedenfalls, Hannes Ametsreiter, sieht in der Corona-Krise „den größten Auftrieb für die Digitalisierung in Deutschland aller Zeiten“. Es werde sich „viel verändern, um nicht zu sagen alles“, sagte er am vergangenen Sonntag bei einem virtuellen Treffen des Münchner Start-up-Festivals „Bits & Pretzels“. Welche Bereiche aber könnte dieser Digitalisierungsanschub betreffen?





Arbeiten von Zuhause

In vielen Unternehmen und Behörden hatte das Projekt schon länger auf der Agenda gestanden, mit dem Ausbruch des Coronavirus mußte dann alles ganz schnell gehen: Jeder, der seine Arbeit auch außerhalb des Büros erledigen konnte, wurde nun in Heimarbeit geschickt – ins „Home Office“. Wie weitgehend der Rat von Gesundheitsminister Jens Spahn, auch am Arbeitsplatz so weit wie möglich auf persönliche Kontakte zu verzichten, umgesetzt wurde, zeigt ein Blick auf die Verkehrslage am vergangenen Montag morgen. Im mit Abstand staureichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo sich Pendler zur morgendlichen Stoßzeit sonst durch knapp 200 Kilometer zähfließenden Verkehr quälen, herrschte nun gähnende Leere: Vier Staus mit acht Kilometern Gesamtlänge meldete der WDR-Hörfunk um 8 Uhr – eine Verkehrslage wie sonst  an einem Sonntagnachmittag.

Einer Umfrage zufolge die im Auftrag des Internet-Jobportals „Glassdoor“ durchgeführt wurde, ließe sich laut dem Branchenmagazin Personaldienst die große Mehrheit der Büroangestellten gerne nach Hause schicken. 78 Prozent von gut 1.000 Befragten gaben an, sie würden eine solche Entscheidung ihres Arbeitgebers für richtig halten. Nur vier Prozent mochten sich nicht auf Anordnung nach Hause schicken lassen. Weitere 14 Prozent gaben an, ihre Arbeit nicht aus der Ferne erledigen zu können.

Die deutliche Mehrheit der Befragten sieht für sich Vorteile in der Telearbeit: den Wegfall von Fahrtkosten für den Weg zur Arbeit (53 Prozent), die Möglichkeit, in seiner eigenen Geschwindigkeit arbeiten zu können (49 Prozent), einen besseren Ausgleich zwischen Arbeit und Privatleben (48 Prozent) und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf (46 Prozent). Ein gutes Drittel (35 Prozent) sorgt sich demnach allerdings auch um die gute Zusammenarbeit mit den Kollegen, und ein Viertel fürchtet, im „Home Office“ weniger produktiv zu sein als im Büro.

Interessant dürfte der Übergang nach der Büro-Quarantäne zum Normalzustand werden: 61 Prozent der Befragten rechnen damit, daß ihre Arbeitgeber auch nach dem Ausnahmezustand die Möglichkeiten zur Telearbeit ausweiten werden. 26 Prozent glaubten hingegen, es werde sich nichts Wesentliches ändern.

Einen plötzlichen Streßtest stellt die schlagartige Ausweitung der Telearbeit übrigens auch für manches firmen- und behördeninterne Datennetz dar. Die Überlastungen gehen stellenweise so weit, daß Mitarbeitern empfohlen wird, keine großen Dateien zu verschicken und sogar Telefonate möglichst über Mobilfunk zu führen, da die Festnetztelefone sonst das Datennetz zu stark belasten.





Online-Handel

Die Marktplätze der Republik sind in diesen Frühlingstagen leer, der Einzelhandel hat geschlossen. Doch während Meldungen von gigantischen Umsätzen und Gewinnen des Online-Riesen Amazon die Runde machen, ist die Euphorie innerhalb der deutschen E-Commerce-Branche getrübt. „Verunsicherung ist immer schlecht für den Handel“, sagt Kai Hudetz, Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung in Köln. Seine einfache Erklärung für die Zurückhaltung lautet: „In Krisenzeiten halten die Leute ihr Geld zusammen. Es wird einfach weniger konsumiert.“ 

Alarmierend sind die Zahlen, die der Branchenverband Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (BEVH) jüngst veröffentlichte. 84 Prozent der befragten Händler können schon konkrete Auswirkungen im eigenen Online-Geschäft spüren, und  40,9 Prozent der Unternehmen gaben an, weniger Bestellungen durch ihre Kunden zu verzeichnen. 77 Prozent der Befragten befürchten Lieferengpässe bei speziellen Waren. Vor allem der grenzüberschreitende Warenverkehr sei zunehmend erschwert, zudem seien viele in China produzierte Waren kaum noch lieferbar. 

Eine Sonderkonjunktur erlebten in den vergangenen Wochen nur die Lieferdienste für online bestellte Lebensmittel (siehe Seite 11). Daß kein erhöhter Online-Handel festzustellen ist, bestätigen auch die Paketzulieferer. „Wir sehen bisher normale Sendungsmengen und keinerlei Engpässe bei der Lieferung“, sagte ein Sprecher der Deutsche Post DHL Group. Die Marktführer wie DHL, Hermes oder DPD bieten kontaktlose Lieferungen an. Eine Unterschrift des Kunden ist nicht erforderlich.





Bekämpfung einer Pandemie

Länder auf der ganzen Welt kämpfen mit Hilfe von digitalen Überwachungswerkzeugen gegen die Corona-Pandemie. In Taiwan etwa bekamen die Behörden schnell Wind von den Geschehnissen in Wuhan. Dort verknüpfte man innerhalb eines Tages die Datenbank der nationalen Krankenkasse mit denen der Grenzbehörden, um Reiserouten nachzuvollziehen und Verdachtsfälle identifizieren zu können. Personen, die nicht in Hochrisikogebiete gereist waren, erhielten zur schnelleren Abfertigung per SMS eine Gesundheitserklärung für die Einreise. Diejenigen, die in Chinas Risikogebieten waren, kamen in häusliche Quarantäne. Überwacht wurden sie mit Hilfe von Mobilfunk und unter Androhung drakonischer Strafen. 

In Südkorea nutzten Regierungsbehörden Überwachungskameras, die Standortdaten von Smartphones und die Aufzeichnungen von Kreditkartenkäufen, um die jüngsten Bewegungen von Sars-CoV-2-Trägern nachzuverfolgen. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, sich über Smartphone-Apps zu informieren, die anzeigen, wo sich Infizierte aufgehalten haben, ohne zu sagen, wer der Infizierte ist.

Deutsche hingegen pflegen aus Datenschutzgründen eine große Skepsis gegen derartige Überwachungsmaßnahmen. In einem beschleunigten Verfahren hatten Bundestag und Bundesrat am vergangenen Mittwoch das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ beschlossen. Ein ursprünglicher Entwurf sah darin auch eine Regelung vor, die es den Gesundheitsbehörden ermöglichen sollte, „zum Zwecke der Nachverfolgung von Kontaktpersonen“ „technische Mittel“ einzusetzen und von Telekommunikationsanbietern die Herausgabe von Verkehrs- und Standortdaten zu verlangen.

Dabei gibt es nur ein Problem: Die Weitergabe der GPS-Daten wäre völlig sinnlos, denn sie sind viel zu ungenau für eine exakte Standortfeststellung. Ob sich zwei Personen nah genug gekommen sind, um einander zu infizieren, läßt sich nicht feststellen. Zudem sind die Daten personengebunden und können nicht anonym gelesen werden. Als Vorbild eines datensparsamen Corona-Tracking-Systems könnte stattdessen das App-Konzept der Regierung von Singapur dienen, das sich auf die stromsparende und präzise „Bluetooth Low Energy“-Technologie stützt. Was sonst Bluetooth als Nachteil angelastet wird – daß es nur über wenige Meter Kontakt herstellen kann, – wird hier zum Vorteil.

Das eigene Handy, auf dem auf freiwilliger Basis die entsprechende App installiert wurde, empfängt den Bluetooth-Code eines anderen Handys. Dieser ändert sich automatisch alle halbe Stunde. Anhand der Signalstärke wird nun der Abstand der Personen eingeschätzt. Ist er gering genug, speichert mein Handy diesen Code. Da sich der Code bald wieder ändert, hat mein Handy jedoch keine personengebundenen Daten erfaßt. Werde ich als infiziert diagnostiziert, veröffentlicht meine App alle Codes die ich je gesendet habe, auf einem zentralen Server. Alle anderen Nutzer laden regelmäßig die als „infiziert“ markierten Codes herunter. Sie beeinhalten keine Aussage über Ort, Zeit oder Person, helfen aber den Personen, mit denen ich Kontakt hatte. Denn: Der Abgleich der veröffentlichten mit den lokal auf meinem Telefon gespeicherten Codes, ermöglicht dann das Berechnen ihrer Gefährdung. Auf dem zentralen Server aber gibt es keinerlei Daten darüber, wer genau infiziert ist oder wo sich die Person derzeit aufhält. Das Heinrich-Hertz-Institut und das Robert-Koch-Institut arbeiten bereits an einer solchen App für Deutschland.





Schulunterricht, aber daheim

Über 32.000 deutsche Schulen sind derzeit aufgrund des Coronavirus geschlossen, Unterricht ist allenfalls übers Internet möglich. In dieser Situation müssen Lehrer und Schüler auf digitale Lehr- und Lernmöglichkeiten zurückgreifen, und es zeigt sich, wie Länder und Schulen digitalen Herausforderungen gewachsen sind.

Mit dem „Digitalpakt Schule“ stellte die Bundesregierung 2019 fünf Milliarden Euro für fünf Jahre bereit, um die Länder zu unterstützen, Schulen technisch aufzurüsten. Die baden-württembergische Allemannenschule, in der laut der Nachrichtenagentur dpa jeder Schüler ein iPad besitzt und der Unterricht reibungslos über eine Lernplattform im Netz weiterläuft, ist dennoch die Ausnahme. Die Anschaffung der iPads für private Haushalte wird allerdings nicht subventioniert.

Tatsächlich gibt es aber einige Online-Angebote, die staatlicher oder privater Initiative entspringen. Das bayerische Kultusministerium führte schon 2014 das Internetportal Mebis ein, auf dem Lehrer Unterrichtsinhalte hochladen und sich mit anderen Lehrkräften sowie Schülern austauschen können. Die anderen Bundesländer verfügen teils über ähnliche Plattformen. Das soll zusätzliche Messengerdienste und Papier sparen und die Verfügbarkeit des Lernstoffs auch ohne physische Anwesenheit im Hörsaal oder Klassenraum sichern.

Die jetzige Situation fordert trotzdem die Kreativität des Lehrpersonals. Die Münchner Gymnasiastin Magdalena W. (17) berichtet der JF von WhatsApp-Gruppen und Youtube-Livestreams, in denen der Lehrstoff vermittelt werden soll. Mebis nutze nur der Mathelehrer, die meisten Aufgaben kämen per E-Mail. „Chaos“, faßt die Schülerin die Lernsituation zusammen. Sie freue sich auf den regulären Unterricht. Der Berliner Gymnasiast Josef K. (17) erzählt ebenfalls, das Hauptmittel der Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern sei die althergebrachte E-Mail. Seine Englischlehrerin habe vorgeschlagen, ihre Stunden per Videonachrichtendienst Zoom abzuhalten. Von dem System „Lernraum Berlin“, das das Land den Schulen zur Verfügung stellt, hat er noch nie etwas gehört. Dafür hätten er und seine Mitschüler Codes für eine Nachhilfeapp erhalten. In der Einführungsphase wirke sich die plötzliche schulische Umstellung nicht allzu verheerend aus, meint Josef. „Aber für die Leute, die dieses Jahr Abi schreiben, ist es schlimm.“

Befürworter des Hausunterrichts werden aber enttäuscht sein: Die jetzige Aussetzung der Schulpflicht ist keine Testphase für „Homeschooling“ und eine dahingehende Reform ist nicht in Sicht.





Breitbandausbau

Die Situation entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Da hat es das schnelle Internet in Form moderner  Glasfaserleitungen endlich bis in die badische Provinz und sogar bis unmittelbar vor die Haustüren geschafft – und nun, in den Zeiten von Coronavirus und allgegenwärtiger Telearbeit, kommt niemand, um es anzuschließen. „Aufgrund der aktuellen Situation können keine Hausanschlüsse an das Glasfasernetz fertiggestellt werden“, ließ die Stadtverwaltung des Mittelzentrums Bühl am vergangenen Freitag verlautbaren. „Diese Maßnahme wurde zum Schutz der Gesundheit der Hausbewohner als auch der Mitarbeiter der ausführenden Baufirmen getroffen.“

Die Bühler sind nicht die einzigen, die wegen der Infektionsschutz-Auflagen auf ihr schnelles „Giga-Netz“ warten müssen. „Derzeit finden in der Regel keine Hausbegehungen statt“, berichtet auch Holger Haupt, Beauftragter für Breitbandmanagement des Landkreises Börde in Sachsen-Anhalt, „gearbeitet wird verstärkt an den Ortsverbindungs- und Ortsverteiltrassen“, erklärte er in der Lokalzeitung Volksstimme. 

Immerhin geht der Ausbau dort überhaupt weiter. Im bundesweiten Überblick sieht es wesentlich schlechter aus: Der politisch vielbeschworene Breitbandausbau für schnelles Internet auch auf dem Lande stockt seit Jahren. Von 2,4 Milliarden Euro Fördergeldern, die Bund und Länder 2019 zur Verfügung gestellt hatten, wurden lediglich 27,2 Millionen abgerufen, wie Business Insider berichtet. Unter den 21 OECD-Staaten lag Deutschland 2018 beim Breitbandausbau auf Platz 16.

Die Gründe dafür sieht der Online-Dienst unter Bezugnahme auf nicht näher benannte „Regierungskreise“ in der föderalen Struktur und der zeitraubenden Bürokratie. So habe es seit Verabschiedung des Fonds für „Digitale Infrastruktur“ im Dezember 2018 bereits ein ganzes Jahr gedauert, bis sich Bund und Länder über eine Verwaltungsvereinbarung einigen konnten, wie die Mittel in Anspruch genommen werden dürfen. Im Detail unterscheiden sich die Kriterien von Bundesland zu Bundesland. Erst nach Zusage der Gelder können Netzbetreiber den Ausbau planen. Der Bau beginnt erst, wenn die Planung abgeschlossen ist.