© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Sterbebegleitung statt Heilung
Gesundheitsökonomie: Bertelsmann-Studie forderte radikale Krankenhausschließungen
Jörg Schierholz / Josef Bernard

Die Anzahl der Krankenhausbetten in Deutschland hat sich seit 1991 um ein Viertel auf unter 500.000 verringert. Und der Trend soll sich fortsetzen – trotz auf über 83 Millionen gestiegener Bevölkerungszahl und gleichzeitig immer mehr älteren Patienten. Das Gutachten „Zukunftsfähige Krankenhausversorgung“ der Bertelsmann-Stiftung fordert, die Zahl der Kliniken sogar von 1.400 auf deutlich weniger als 600 Häuser zu senken. Deutschland hätte im OECD-Vergleich zu hohe Krankenhauskapazitäten, zu viele Betten sowie unzureichende Konzentration und Spezialisierung.

Nur Kliniken mit größeren Fachabteilungen und mehr Patienten hätten genügend Erfahrung für eine sichere Behandlung; viele Komplikationen und Todesfälle ließen sich durch eine Bündelung von Ärzten und Pflegepersonal sowie Geräten in weniger Krankenhäusern vermeiden. Kleinere Kliniken hätten nicht die nötige Ausstattung und Erfahrung, um Herzinfarkte oder Schlaganfälle angemessen zu behandeln.

Kontraproduktiver Beitrag zur Seuchenprävention

Auch die schnelle Erreichbarkeit eines kleinen Krankenhauses sei kein Vorteil: Ein Teil der Patienten wäre nicht stationär behandlungsbedürftig, sie müßten ambulant versorgt werden. In der Studie von 2019 werden auch Grippe und Lungenentzündung mit 68 Prozent zu den Diagnosegruppen gezählt, die nicht stationär aufgenommen werden müßten – eine fatale Annahme, wie die Covid-19-Epidemie mit den vielen stationären und intensivpflichtigen Patienten zeigt.

Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) schrieb 2017 zwar jede dritte Klinik rote Zahlen. Doch 2018 hatte der Ärzteverband Marburger Bund gleichzeitig auf die zentrale Bedeutung der Krankenhäuser für die Notfallversorgung hingewiesen; die Diskussion „bestimmter Lobbygruppen“ über die Notwendigkeit eines Abbaus stationärer Kapazitäten sei „leichtfertig“.

Dennoch trommelten „Experten“ mit medialer Unterstützung dafür, die wohnortnahe Versorgung mit Allgemeinkrankenhäusern durch einige wenige Großklinikkomplexe zu ersetzen. Daß der Bertelsmann-Unternehmensbereich Arvato die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen zum strategischen Geschäftsfeld erklärt hat und für den Gesundheitsbereich der Stiftung Brigitte Mohn zuständig ist, welche zugleich Aktionärin und Aufsichtsrätin des privaten Krankenhauskonzerns Rhön-Klinikum AG ist, erklärt allerdings die „Empfehlungen“ der Krankenhausstudie.

Unerklärlich ist hingegen, daß die Drucksache 17/12051 des Bundestags von 2013 mit der Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-Sars“ von den Bertelsmann-Gutachtern schlicht ignoriert wurde. Darin kamen Experten zu dem Schluß, daß die rasche Verbreitung eines neuen Sars-Virus nicht effektiv aufgehalten werden könne. Zum Höhepunkt der ersten Erkrankungswelle nach 300 Tagen wären sechs Millionen Menschen in Deutschland erkrankt.

Das Gesundheitssystem würde vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden könnten. Auch der 4. Gefahrenbericht der Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern von 2011 blieb bei Bertelsmann wie in der Politik unberücksichtigt. Es fehlen Schutzanzüge und -masken: „Deutschland ist auf die Pandemie, anders als von der Regierung behauptet, nicht schlecht, sondern gar nicht vorbereitet“, so Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer.

Viele bezeichnen heute die Covid-19-Pandemie als „schwarzen Schwan“, also ein völlig unerwartetes Ereignis. In der Originalquelle, dem Buch „Der schwarze Schwan“ von Nassim Nicholas Taleb, ist eine globale Pandemie aber ein „weißer Schwan“, also ein Ereignis, das mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann stattfinden wird. Singapur hat beispielsweise schon seit 2010 einen ausgearbeiteten Pandemie-Plan.

Es macht bei einer Epidemie eben einen gewichtigen Unterschied, ob man auf 100.000 Einwohner sechs Intensivbetten zur Verfügung hat (Frankreich, Großbritannien) oder 34 wie Deutschland und 35 wie die USA. Doch die insgesamt 28.000 deutschen Intensivbetten sind schon jetzt stark belegt – das durch diverse Reformen optimierte deutsche Gesundheitssystem erlaubt es Krankenhäusern nicht mehr, teure Intensivbetten über den Alltagsbedarf hinaus in großer Zahl bereitzuhalten.

 „Über 80jährige werden nicht mehr beatmet“

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) spricht schon offen über „Priorisierung“, da im Notfall nicht genug Betten vorhanden sind. Sprich: Es werden vorrangig nur noch diejenigen Patienten klinisch notfall- oder intensivmedizinisch behandelt, „die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose“ haben.

Was eine Priorisierung für alte und multimorbide intensivpflichtige Patienten bedeutet, wurde 2009 für Großbritannien erforscht: Demnach wären 46 Prozent der normalen Patienten auf einer Intensivstation im Pandemiefall nicht behandelt worden, da sie bereits zu krank waren. Insgesamt 69 Prozent dieser Patienten hätten diese Entscheidung nicht überlebt. In der Universitätsklinik Straßburg haben sich kürzlich Ärzte aus Baden-Württemberg das Procedere praktisch angeschaut: „Über 80jährige werden nicht mehr beatmet, sondern bekommen eine Sterbebegleitung.“

Über 30 Jahre Prozeßoptimierung und Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen haben tiefe Spuren hinterlassen. Die Bettenzahl, der Zeitraum des stationären Aufenthaltes und die Anzahl der Pflegekräfte wurden reduziert. Aktuell sind 17.000 Stellen nicht besetzt. Immerhin eines stimmt etwas optimistisch: Die Anzahl der Intensivbetten in Deutschland hat sich laut Statistischem Bundesamt von 2002 bis 2017 um 4.900 (21 Prozent) erhöht.

 www.bertelsmann-stiftung.de