© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Der Welt den Rücken zukehren
Öffentliches Leben: Die Freiheit ist entbehrlich, sobald es darum geht, gesund zu bleiben
Eberhard Straub

Seit der Antike wurde den leicht zu täuschenden und rasch enttäuschten Menschen immer wieder geraten, sich nicht ununterbrochen vom Lärm der aufgeregten Zeit verführen und ängstigen zu lassen. Jeder sollte darauf bedacht sein, zumindest gelegentlich Ruhe in vernünftiger Distanz zum öffentlichen Leben zu finden, also in sich einzukehren oder im Umgang mit wenigen wahren Freunden geistige und seelische Freuden zu genießen. Solche Empfehlungen empfingen durchaus religiöse Weihen, als Christus der umtriebigen Martha vorwarf, sich um allzu vieles zu kümmern, worüber sie ihr Leben versäume, weil abgelenkt von der befreienden Wahrheit. 

Eine solche Warnung widerspricht vollständig den Forderungen in demokratischen und kapitalistischen Zeiten. Wer sich einer Marktfrömmigkeit mit ihren Geboten verweigert, darf sich nicht beklagen, benachteiligt zu werden. Den Sinn seines Lebens kann jeder als geschäftiger Leistungsträger nur auf dem Markt und dort im scharfen Wettbewerb finden. Mit der Zeit muß gerechnet werden, um anderen zuvorzukommen und sie um ihre Vorteile zu bringen. Wahrhaften und wehrhaften Demokraten ist selbstgenügsame Privatheit verdächtig. Denn in ihr offenbart sich für sie ein höchst unzulängliches Sozialverhalten, nämlich wegzuschauen, statt genau hinzuschauen, nicht mitzumachen, wenn es gilt, allen möglichen Anfängen zu wehren und  im unermüdlichen Einsatz für „Werte“ Zeichen zu setzen. Ein Demokrat ist zu dauernder Wertarbeit angehalten. Müßiggang ist aller Laster Anfang! 

Wer sich auf sich selbst zurückzieht und in der inneren Einsamkeit sein eigenes Weltgetümmel veranstalten möchte, wie ehedem illusionslose Römer oder Christen in würdiger Muße, bestätigt ein unzuverlässiger Demokrat zu sein. Außerhalb der Gesellschaft oder auch nur an deren Rande gibt es für wache und immer aufmerksame Sozialpartner kein Heil. Mit ihren Büchern oder Gedanken beschäftigte Müßiggänger bekunden einen eklatanten Mangel an Verantwortungsbewußtsein, diese Welt als unsere Umwelt vor allen Übeln zu bewahren oder sie, sofern schon beschädigt, von allen Übeln zu erlösen.

In diesem Sinne ist Muße für alle politisch aktiven Zeitgenossen verwerflich und hat nichts mehr mit innerer Freiheit zu tun, deren Voraussetzung  im alten Rom und noch lange danach für die Christen Besonnenheit war. Diese Tugend ermöglichte es ihnen, vor unvermeidlichen Herausforderungen oder gar Katastrophen nicht zu verzagen. Römer und Christen verloren deshalb nicht sofort den Kopf, wenn sie von der immer tätigen Geschichte mit ungewohnten, auch tödlichen Phänomenen überrascht wurden. 

Mitten im Leben vom Tode umfangen, wußten sie: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, wie  Schiller in alter Tradition von der Bühne als moralischer Anstalt verkünden ließ. Eine solche Sentenz brächte ihn heute als „Faschisten“ vors Gericht. Nicht viel besser erginge es dem großen barocken Dichter Andreas Gryphius, der mitten in den nicht enden wollenden Kriegen, die wir als „Dreißigjährigen Krieg“ zusammenfassen, daran erinnerte, daß alles vergänglich ist und wie ein leichter Traum vergeht. „Was ist des Menschen Leben … als eine Phantasie der Zeit“? Ihn, wie viele Stoiker und Christen, erschütterte das nicht. Wer sich beherrschen kann, weil er mit sich vertraut ist, den kann nichts aus dem Gleichgewicht bringen, dem ist die weite Welt und alles untertan! Römer und Christen hatten keine Angst. 

Von solcher gar nicht leicht zu erringenden Seelenruhe und Weltklugheit sind wir weit entfernt. Jeder Mensch, der als fühlender Mitmensch anerkannt sein will – und das gilt für alle Personen des öffentlichen Lebens – kommt nicht ohne das feierliche und oft wiederholte Bekenntnis aus: „Ich habe Angst.“ Zum ersten Mal in einer langen Geschichte versteht sich ausgerechnet der umfassend aufgeklärte Mensch, der sich nichts vormachen läßt, als das Wesen, das Angst hat und auf seine Ängstlichkeit auch noch stolz ist. Allerdings gab es auch nie so viele Sterbliche, die so lebenshungrig, ja lebensgierig waren, ohne genau zu wissen, was denn nun das Leben so unbedingt lebenswert macht. 

Darüber könnten nun die wegen der Corona-Panik zu einer erzwungenen Muße Verdammten nachdenken, wenn die öffentlichen Mächte ihnen die Zeit ließen, über sich und das Leben nachzudenken. Doch diese lassen keinen mit sich allein. Über Radio und Fernsehen, mit Internetbotschaften und Zeitungen drängen sie sich in die Privaträume und versichern jedem, wie umsichtig sämtliche Verantwortungsträger – Regierung, Parteien, Funktionäre aller Art und Journalisten – ihre Aufgaben der Fürsorge und Betreuung wahrnehmen. Ratgeber aller Art fühlen sich herausgefordert, jedem dabei zu helfen, in seiner Weltabgeschiedenheit möglichst nicht auf eigene, gar dumme Gedanken zu kommen. 

Der Philosoph und Theologe Blaise Pascal vermutete um 1670, alles Unglück der Menschen rühre daher, daß es kein Mensch aushalte, für längere Zeit mit sich ganz allein in seiner Wohnung zu sein. In diesem Sinne ist es nahezu menschenfreundlich, jeden vor den Schrecken der Einsamkeit zu bewahren, der Welt mit ihren Liebesgaben auch nur vorübergehend abhanden zu kommen.

Das Los des Weisen war allerdings immer die Einsamkeit. Freilich die selbstgewählte: der tumultösen Welt den Rücken zuzukehren, zu lesen, zu schreiben und zu denken, in einer vita contemplativa fern den aufdringlichen Zumutungen der vita activa zu sich selbst zu finden und damit zur inneren Freiheit und Selbstbestimmung zu gelangen. Der Weise hielt sich an die durch die Jahrhunderte wiederholte Devise: Genug weiß, wer sich selbst weiß. Genug weiß, wer Gott weiß. Genug kann, wer sterben kann. 

Die altväterliche und etwas schwierige Kunst, selig zu sterben, ersetzten Aufklärer durch die bei weitem plausiblere, glückselig zu leben. Der Tod mußte daher möglichst verdrängt werden. Er galt nicht mehr als Freund Hein, sondern als Feind und Spielverderber. Aber damit gewannen Angst und Sorge eine bislang ungewohnte Übermacht, die Sorge um die Gesundheit und die Angst vor Krankheiten. Das nackte Leben, die unversehrte Körperlichkeit wurde zum höchsten Ideal. Die Freiheit ist entbehrlich, sobald es darum geht, gesund zu bleiben.

In ihrer Sorge um die Gesundheit und das Fitbleiben begrüßt die überwältigende Mehrheit alle nur erdenklichen Freiheitsberaubungen als Mittel, der Angst enthoben zu werden, etwa schutzlos Krankheitserregern ausgeliefert zu sein. Das flüchtige, für den Tod bestimmte Leben will diesen überlisten und nimmt dafür in Kauf, sich ganz ungewohnten Zwängen zu fügen und dem Leben damit seine Würde zu nehmen, nämlich die Freiheit, zu der der Mensch bestimmt ist.