© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Auf den korrekten Weg führen
Kritik am Rechtspopulismus: Wir sind auf dem Weg in die Pöbelherrschaft
Thorsten Hinz

Die etablierten Parteien, Journalisten und akademischen Titelträger in politischer Mission singen dieselbe Leier: Der tückischste Feind der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist und bleibt der Populismus, genauer: der Rechtspopulismus. Der Rechtspopulist ist ein Demagoge, ein  opportunistischer Vereinfacher, der Stimmungen entweder bedient, anfacht, sich ihnen hingibt oder alle drei Varianten in sich vereint. Er fühlt sich von der Komplexität der Welt überfordert und glaubt an ebenso simple wie radikale Lösungen, die letztlich demokratie- und verfassungfeindlich sind. Als Vertreter und Sprachrohr des Pöbels erkennt er in den Eliten seinen natürlichen Feind.

Daraus ergibt sich für die etablierten Eliten hierzulande nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die Populisten, das Lumpenproletariat, die Unzivilisierten, die Feinde der Demokratie, an der öffentlichen, politischen, medialen Artikulation zu hindern. Sie berufen sich auf das Ideal der repräsentativen Demokratie, in der die guten, zivilisierten, tugendhaften, selbstverantwortlich handelnden Teile des Volkes abgebildet werden.

Nicht alle von ihnen können alles überschauen, aber sie verfügen über eine gesunde Urteilskraft und sind befähigt, die Regeln, Beschränkungen und Notwendigkeiten der eigenen soliden Lebensführung auf das Ganze hochzurechnen und die Verantwortung an eine Elite zu delegieren, die befähigt ist, zum Besten aller zu regieren. Demokratie soll nicht total sein, weil andernfalls die Tyrannei der Mehrheit und damit die Pöbelherrschaft, die Ochlokratie droht. Wo der Pöbel entweder akklamiert oder Köpfe rollen läßt, zähmt die repräsentative Demokratie die Leidenschaften und veredelt die Interessengegensätze zum Kompromiß. Die institutionalisierte Gewaltenteilung und der Rechtsstaat sind zwei weitere, unverzichtbare Garanten des inneren Friedens. 

Es gibt bösen und guten Populismus

Das alles klingt überzeugend in der grauen Theorie, doch leider sind jene, die in der politischen Auseinandersetzung so reden, meistens unfähig zur Selbstbeobachtung. Sie sind völlig überzeugt davon, selber im Namen der höheren Ordnung zu reden und zu handeln und zur Elite prädestiniert zu sein. Sie halten sich für kosmopolitisch, ausgestattet mit tieferen Einsichten und einer stabilen Moral und fühlen sich berufen, das lokal verwurzelte, in provinziellen Maßstäben denkende Volk, dessen Stimme ebenfalls gehört werden will, auf den korrekten Weg zu führen. Natürlich bestreiten sie nicht sein demokratisches Mitspracherecht, doch ohne ihre Anleitung drohe es in einen unterkomplexen, autoritären, völkischen Populismus abzugleiten. Sogar von der Notwendigkeit einer „Ent-Demokratisierung“ ist die Rede.

Was läßt sich dagegen einwenden? Zunächst einmal ist die Komplexitätsreduktion, die den Rechtspopulisten – und zwar fast ausschließlich ihnen –vorgeworfen wird, eine ganz natürliche Sache. Jeder Mensch selektiert die Informationen, die auf ihn eindringen, weil er unter ihrer Vielzahl sonst zusammenbrechen und jedes Gespräch darüber zu einem end- und ergebnislosen Palaver würde. Den Informationsverlust, der daraus folgt, nimmt man hin und kalkuliert ihn ein.

Alle Parteien und Medien kommunizieren ihre Botschaften verkürzt und populistisch. Ein paar Beispiele: „Die Rente ist sicher“, „Wir schaffen das“, „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, „Der Islam gehört zu Deutschland“; „Die AfD ist der politische Arm des Rechtsterrorismus“. Einige Aussagen sind schlichtweg dummes Zeug, andere bösartig, wieder andere üble Nachrede oder, im aktuellen Vokabular, sogar „Haßrede“, aber sie werden überwölbt vom Schutzschirm der Meinungsfreiheit und sind weder ein Grund für staatsanwaltschaftliche Ermittlungen noch für geheimdienstliche Nachforschungen.

Als problematisch, rechtspopulistisch und tendenziell verfassungsfeindlich gilt hingegen die von Merkel-kritischen Demonstranten benutzte Losung: „Wir sind das Volk.“ Das sei, grollen Politik-Professoren, eine undemokratische Anmaßung, weil mit der direkten Anrufung des obersten Souveräns die Institutionen und Verbindlichkeiten einer repräsentativen wie rechtsstaatlichen Demokratie vom Tisch gewischt würden.

Zu dieser Behauptung hat Günter Scholdt in seiner kürzlich erschienenen Streitschrift „Populismus“ (Marburg an der Lahn 2020) angemerkt, es sei unzulässig, „einen werbepsychologisch effektvollen, historisch gewachsenen Slogan eins zu eins auf die Sachebene“ zu übertragen. Dieser aus der Endphase der DDR entlehnte Kampfruf sei „lediglich die rhetorische Quittung für eine zunehmend obrigkeitliche Bevormundung“. Man könnte auch sagen: Die Angriffe auf den angeblichen Rechtspopulismus sind selber populistisch. Es gibt aber einen bösen – rechten – und einen guten – linken, liberalen – Populismus, und letzterer kommt sogar in akademischer Verkleidung und staatlichen Drucksachen daher.

Diese Ungleichbehandlung beweist nur, daß es nicht um höhere Werte und die Rettung der Demokratie vor ihren Feinden geht, sondern um Macht. Der Populismus-Vorwurf ist im Machtkampf eine politische Waffe.

Konkret geht es darum, bei ideologisch besetzten Themen wie Migration, Islam, EU-Bürokratie, Euro, Gender, Klima, Antirassismus und Antidiskriminierung die Grenzen des Sag- und schießlich Denkbaren immer enger zu ziehen. Debattiert werden darf nicht das Ob, nur das Wie. Das erinnert tatsächlich an die Praxis der „sozialistischen Demokratie“ in der DDR. Wer damals in halböffentlichen Diskussion in vorsichtigsten Wendungen die offensichtliche Dysfunktionalität des Wirtschaftssystems berührte, wurde umgehend scharf zurechtgewiesen: So dürfe man die Frage nicht stellen. Vielmehr müsse jeder sich fragen, ob er an seinem Platz schon genügend tue, um die Vorzüge, welche die sozialistische Ordnung eröffne, auch zur Entfaltung zu bringen! „Demokratie“ bedeutete also, sich den politisch-ideologischen Vorgaben der Staatspartei zu unterwerfen und seine Kraft und Fähigkeiten in einem irrationalen und dysfunktionalen System zu verschleißen.

Demokratische Instanzen werden entkernt

In der heutigen Demokratie-Praxis verbinden sich zwei problematische Entwicklungen miteinander. Zum einen die Auslagerung politischer Kompetenzen an inter- und supranationale, demokratisch nicht legitimierte Instanzen, wodurch die demokratischen Institutionen und Rituale zu einer entkernten Kulissenarchitektur verkommen. Colin Crouch, der originäre Analytiker dieser „Postdemokratie“, macht – als Linker verständlicherweise – dafür primär den Neoliberalismus verantwortlich, der den Staat veranlaßt habe, seine Funktionen in die Privatwirtschaft auszulagern. Unberücksichtigt läßt Crouch die anmaßenden Aktivitäten und den wachsenden Einfluß von Organisationen und NGOs, die sich vermeintlich dem Menschheitswohl widmen und die Nationalstaaten als hinderlich ansehen.

Das ist bequem für die hiesigen Eliten, die sich eine übernational-ideologische Legitimationsquelle erschließen und so vom eigenen Demos teilweise unabhängig machen. Proportional zur steigenden Ideologisierung sinkt ihre Sachkompetenz. Die Tatsache, daß die regressive Tendenz ihnen verhältnismäßig wenig schadet, ist die mehrheitliche Korrumpierung des Demos durch die sozialstaatliche Umverteilung. Indem der Einzelne durch Transferversprechen aus der Eigenverantwortung entlassen wird, sinkt sein gesellschaftliches Verantwortungsgefühl und die politische Urteilskraft.

Das bedeutet, daß die Verpöbelung, die Ochlokratie, welche die amtierenden Eliten mit ihrem Kampf gegen den Rechtspopulismus angeblich verhindern wollen, längst eine allgemeine Tatsache ist und sie zu ihren Repräsentanten und Nutznießern gehören. In diesem Prozeß greifen politische, geistig-moralische und sozialstaatliche Tendenzen des Niedergangs ineinander. Ein personifiziertes Musterbeispiel ist der sogenannte Asylbürge, der vorgeblich aus Altruismus und auf eigene Kosten den Nachzug von Flüchtlingen nach Deutschland veranlaßt, die Regierungspolitik zu seiner privaten Angelegenheit macht und dafür öffentliche Anerkennung erntet. Sobald  ihm aber die tatsächlichen Kosten seines Tuns präsentiert werden, stellt sich heraus, daß er von Anfang an auf ihre Sozialisierung durch die Staatskasse gesetzt hat. Er ist unfähig, die Konsequenzen seines Tuns zu antizipieren, zu tragen, sich politisch verantwortlich oder auch nur wie ein Erwachsener zu verhalten.

Diese verbreitete infantile Mentalität spült Personen in die höchsten Ränge von Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit, die treffender mit „Ochlokratie“ als mit „Elite“ bezeichnet sind. Was dagegen als Rechtspopulismus diffamiert wird, ist nicht immer, aber sehr oft, der Aufstand der im Land noch verhandenen Restvernunft.