© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn

ln den Schaufenstern der politisch-korrekten Buchhandelskette an der Ecke, die einst mit der antikapitalistischen Polemik Stéphane Hessels eröffnete, vermisse ich die Fortsetzung, diesmal eine Broschüre unter dem Titel: „Distanziert Euch!“ Passend dazu, so mein Gedanke, aus dem Off der Soundtrack von Bette Middler: „From A Distance“. Doch tatsächlich zeigt der aus Afrika adaptierte Ebola-Gruß: Wir sind in der Ellenbogen-Gesellschaft angekommen. Währenddessen beweist die These David Goodharts („The Road to Somewhere“, 2017) ihre Evidenz: So höre ich am Telefon vom „Babylon Berlin“-Künstler wie vom Hauseigentümer, daß sie sich auf ihre Liegenschaften im brandenburgischen Land zurückgezogen haben – oder (wie mir mein Nachbar von einer Freundin berichtet) „auf ein bislang nicht genutztes Gut der Familie“. Mit anderen Worten: „Nur der Anywhere / Versteckt sich somewhere.“ Einmal dabei, dichte ich die Wirklichkeit gleich noch an anderen Stellen ab: „Nicht nur für Hühner gilt bei Seuchen / Auf schnellstem Wege zu entfleuchen.“ Oder: „Wer jetzt heult / Wird gekeult.“ Und: „Der CO2-Ausstoß ist minimal / Verläuft der Ostermarsch nur digital.“


Selbst habitueller Anywhere, aber ökonomischer Somewhere, versetzen mich die nahezu menschenleeren Straßenzüge immer häufiger zurück in die Szenerie der DDR und erinnern mich an das Diktum Christoph Dieckmanns: „Die Zeit stand still / Die Lebensuhren liefen.“ Auf Stippvisite in Halberstadt, halte ich neugierig vor der einstigen „POS Anne Frank“, wo ich meine ersten Schuljahre verbrachte. Verwaist liegt der „Schulgarten“, nur noch das Eingangstor mit dem Schriftzug steht dort einsam – dahinter grüne Grasnarben, wo wir als Schüler an einem Sonnabendvormittag „Pionierhilfe“ leisten sollten. Als ich, vielleicht vierte Klasse, „Pionierscheiße“ fluchte, drohte Frau Grüngreif, ob ich denn wolle, daß meine Eltern ins Gefängnis kommen und ich ins Heim. Am neuen Eingangstor der Schule entsinne ich mich dann der jährlichen Untersuchung jeder Klasse auf Läuse – jeder mußte seinen Kopf hinhalten. Nun, vierzig Jahre danach, zeigt der böse „Kapitalismus“ sein wahres Antlitz. An der verschlossenen Tür hängen mehrere Warnungen: „In unserer Einrichtung ist ein Fall von Krätze aufgetreten!!“, „Mitteilung der Schulleitung / Zurzeit haben wir wieder einen Fall von Läusen im Haus. Bitte kontrollieren Sie den Kopf Ihres Kindes.“ und: „In unserer Einrichtung sind Ringelröteln aufgetreten!“– da waren die DDR-Grenzer aber wirklich auf Wacht!