© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Im Dickicht des Führerhauptquartiers
Innere Emigration, JF-Serie Teil X: Eine bitterböse Satire des im Frühjahr 1945 verschollenen Schriftstellers Felix Hartlaub
Günter Scholdt

Anfang Mai während der letzten Kriegstage in Berlin verliert sich die Spur des nur 31 Jahre gewordenen Schriftstellers und Historikers Felix Hartlaub. Er hinterließ bemerkenswerte Prosastücke, darunter vor allem das 39seitige, Ende 1944 verfaßte Manuskript „Im Dickicht des Südostens“. In Editionen seit 1950 trug es anfangs den Titel „Im Sperrkreis“ oder rubriziert unter „Tagebuch aus dem Kriege“ beziehungsweise „Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier“, was fast einer Irreführung gleichkommt. Denn die Vorstellung von Tagesnotizen oder Vorläufigem versperrt eher den Zugang zu dieser Prosa und ihrem Wert. 

Dabei gehört „Im Dickicht des Südostens“ zum literarisch Bedeutendsten, das während der NS-Jahre inner- wie außerhalb Deutschlands als Kommentar zur militärisch-politischen Katastrophe geschrieben wurde. Und es verblüfft, mit welcher philologischen Instinktlosigkeit etliche Germanisten oder Schriftsteller diese mißverständlichen Gattungsbezeichnungen übernahmen, die von der Schwester des Autors als Herausgeberin in die Welt gesetzt worden waren. Schließlich handelt es sich – trotz kleiner, leicht zu füllender Textlücken – um eine gänzlich durchkomponierte Erzählung in Form eines inneren Monologs, der sich an Mustertexten wie Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ ausrichtet.

Sie beginnt, filmsprachlich formuliert, mit der Totalen: Militärische Wandkarten illustrieren den Rückzug an allen Fronten. Die Krise im Führerhauptquartier findet durch den 20. Juli ihren Höhepunkt, gespiegelt in Panik-reaktionen, die einstige Offiziersherrlichkeiten beenden und die politische Götterdämmerung ankündigen. Dabei entfaltet sich in Vor- und Rückblenden ein gespenstisch-lemurenhaftes Personaltableau in der Endphase des Regimes, das an die besten Szenen von Oliver Hirschbiegels Film „Der Untergang“ (2004) über die Endphase des Krieges erinnert. 

Die Milieustudien aus der Froschperspektive eines Obergefreiten haben etwas von protokollarischer Schärfe. Man spürt durchweg die Insider-Sicht des Verfassers, der seiner Hauptfigur etliche Merkmale und Funktionen der eigenen Existenz im Sperrkreis unterlegte. Beide sind als Historiker Mitarbeiter am Kriegstagebuch des OKW und besetzen als Halboffiziere eine wenig respektierte, erotisch offenbar minderattraktive Stellung. Dazu sind sie angesichts der immer näher kommenden Front von Heldenklau-Auskämmung bedroht und erleben hautnah die Fassadenhaftigkeit falscher Autorität. 

In dieser mitleidlos-sarkastischen Musterung zerfällt, analog zu Benns „General“, historische Größe wie in einem Säurebad. Übrig bleiben banales Grauen, entlarvter Führerkult und Propagandaphrasen, wobei sich Sprach- zur Ideologie- und generellen Gesellschaftskritik weitet. Zudem vermittelt die Bunker-Isolation Grenzerfahrungen, läßt Zeit und Wirklichkeit zerfließen oder das Sinnwidrig-Groteske im Leben triumphieren.

Enzensberger skandalisierte Hartlaubs Aufzeichnungen

Eine Tendenz zur Generalabrechnung ist bereits den frühen, durch Kürzungen verstümmelten Editionen zu entnehmen, zu denen sich die Erben absurderweise berechtigt fühlten, um das Andenken des Verstorbenen zu schützen. Enthalte das Manuskript doch – vermeintlich zur Absicherung bei möglicher Entdeckung – manche regimetreue Passagen. Solches blamable Unverständnis des Textes wurde verschiedentlich auch noch durch „fachkundige“ Leser gestützt, darunter kein geringerer als Hans Magnus Enzensberger. Griff der doch eine wenig spezifische, aber folgenreiche Erinnerung von Hartlaubs Schwester Geno auf, ihr Bruder habe sich im Dritten Reich zuweilen eine Tarnkappe gewünscht. Dies skandalisierte Enzensberger im Kontext scheinbar NS-verseuchter Zitate aus „Im Dickicht“, deren satirischer Gehalt ihm entgangen war. Schlimmer noch: Er beschuldigte mit solchen Pseudobelegen Hartlaub (als weiterhin gültigen Vertreter deutscher Intellektuellen-Mentalität), ein zur Zeitzeugenschaft unfähiger „politischer Voyageur“ gewesen zu sein, der sich erspart habe, „für die Wahrheit einzutreten“. Die Tarnkappe sei „ein Instrument existentiellen Selbstmords“. 

Das inzwischen modische, aber schiefe Bild des Autors mit der Maske wurde Jahrzehnte später durch Durs Grünbein verfestigt, wenngleich er es als Ehrenrettung aufgriff. Nannte er seinen literarischen Vorgänger doch „unseren Verwandten unter der Tarnkappe“ und erklärte den NS-Jargon der Erzählung als „Verzweiflungssprung in die LTI“ und „zynische Maske“, womit er, wie bewußt auch immer, erneut Autor und Erzähler vermengte. Von Zynismus kann jedoch weder beim Verfasser noch der Zentralfigur seines Werks die Rede sein. Letzteren kennzeichnet eher die Naivität eines fanatischen Führerglaubens. Und der Autor von „Im Dickicht“ als satirischer Aufklärer hat gerade mit diesem Text alle roten Sicherheitslinien überschritten oder Masken abgeworfen, falls er je eine trug. 

Auch zuvor tat dieser neurasthenische Literat (von Kind an zergrübelt, ein weltoffen-frankophiler Odenwaldschüler, unsportlich, auffallend unmilitärisch und mit einem Vater belastet, den man 1933 sofort wegen der Förderung „entarteter Kunst“ entlassen hatte) nämlich nur wenig, um seine Gegenposition zur NS-Ideologie zu verbergen. Wie etliche Briefpassagen und weitergeführte Kontakte zu (jüdischen) Exilanten belegen, begrenzte er seine Vorsicht auf jenes Mindestmaß, das ihn nicht märtyrerhaft ins offene Messer laufen ließ. Berufsbedingt finden sich einige Konzessionen, da er als Nicht-Verfolgter schließlich im Lande blieb, was moralstrenge Nachgeborene immerhin eingehend erörtern. Akzeptiert wurde gerade noch, daß der 20- bis 26jährige Jüngling ohne Ressourcen und Erwerbsqualitäten außerhalb von „lingua tedesca“, wie er 1938 einem emigrierten Freund schrieb, nicht denselben Weg ging. 

Ein seelischer Befreiungsakt

Bauchschmerzen jedoch bereitet den Lordsiegelbewahrern unserer Vergangenheitsmoral Hartlaubs Beziehung zu den Mächtigen, die sich nach dem Frankreichfeldzug ergab: zunächst im Dienst für das Auswärtige Amt in Paris bei der Sichtung erbeuteter Akten, sodann fürs Oberkommando der Wehrmacht. Hier amtierte er seit November 1941 als wissenschaftlicher Assistent an dessen Kriegstagebuch, zum Schluß sogar relativ selbständig. Qualifiziert hatte ihn seine militärgeschichtliche Dissertation „Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto“, übrigens Hartlaubs einzige Publikation, die zu Lebzeiten auf nennenswerte Resonanz stieß. 

Die Abkommandierung bot ihm (in eigenen Worten) eine „befristete Konservierungsmöglichkeit“ und die „völlig unwahrscheinliche“ Chance, dem Truppendienst bei der Flugabwehr zu entkommen, der ihn körperlich fast überfordert hatte. Er ergriff sie nicht ohne Skrupel und zugleich fasziniert von der Aussicht, sozusagen im Auge des Zyklons hautnah zu erfahren, wie Weltgeschichte im innersten Zirkel gemacht und nicht zuletzt geschrieben wird. 

Als er ab Oktober 1944 „Im Dickicht“ konzipierte, wußte er es bis zur gänzlichen Desillusion. Vor allem kannte er das Prinzip, wonach historische Größe meist davon abhängt, wie stark man von konkretem Leid abstrahiert. Sein nun gänzlich kalter Blick betraf zudem das als unaufhaltsam taxierte Ende, so daß seine Erzählung bereits spätere Entschuldigungsphrasen der einst so stolzen militärischen Haupthähne im Sperrkreis antizipierte. 

Auch sich selbst unterwarf er einer rigorosen Introspektion. Nicht im Sinn von Mainstream-Germanisten, die ihn, damit er wirklich zu den „Guten“ zählt, auch mal – spekulativ jenseits von Quellenbelegen – mit der „Roten Kapelle“ in Verbindung brachten, sondern gemäß einem höheren Anspruch an die eigene Person. Hatte er doch, wie subaltern auch immer, als „Rädchen“ einer Machtmaschinerie „funktioniert“. Und seine schonungslose Katastrophenbilanz trieb ihn zur (heute weiterhin gültigen) Erkenntnis, daß es in einem falschen Leben kaum ein richtiges gibt.

Die bitterböse Satire „Im Dickicht“, die parallel oder im Anschluß als subversiver Kommentar seiner kriegsgeschichtlichen Darstellungen verfaßt wurde, war ein psychischer Befreiungsakt, vergleichbar mit Albrecht Haushofers in Gestapo-Haft gedichteten „Moabiter Sonetten“. Dies erklärt Hartlaubs Tollkühnheit, mitten im Sperrkreis einen so zersetzend-defätistischen Text zu entwerfen, dessen offizielle Kenntnis ihn, besonders nach dem 20. Juli, fraglos den Kopf gekostet hätte. 

Für ihn war es seelische Läuterung. Daher auch die wachsende Karikierung der Zentralfigur, die ihm zwar charakterlich nur wenig glich, dafür aber grell seine existentielle Lage abbildete. Er pathologisierte sie sogar in einem surrealistischen Schlußbild, in dem sich der Schreiber die größenwahnsinnige Mission anmaßt, den ratlosen Hitler durch noch größeren Fanatismus zu übertrumpfen. So entstand ein (selbst-)therapeutisches brillantes Stück Literatur. Es ist Zeit, deren Rang angemessen zu würdigen. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.