© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

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Einschätzungen zum Ausnahmezustand

BERLIN. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (70) hat mit Blick auf die Corona-Pandemie und ihre Folgen vor der längerfristigen Gefahr gewarnt, „daß wir uns jetzt an einen autoritären Maßnahmenstaat nolens volens gewöhnen“. Er halte es für richtig, daß die Bürger derzeit auf Souveränitäts- und Grundrechte verzichteten und nicht protestierten, sagte er dem Deutschlandfunk. Gleichzeitig stelle der Ausnahmezustand aber die Demokratiefrage noch einmal ganz neu. Die Sorge von vielen Verfassungsrechtlern und Vertretern der Zivilgesellschaft sei: „Wie kriegen wir das eigentlich wieder zurückgebogen? Wie kriegen wir den legitimen Zustand der Volkssouveräntiät wieder hin? Werden vielleicht irgendwelche Rechte aus dem Ausnahmezustand weiterhin beschnitten sein?“ Der Blogger und Journalist Sascha Lobo (44) schrieb auf spiegel.de unter dem Titel „Wider die Vernunftpanik“, es bestürze ihn, daß jetzt auch sich als liberal bezeichnende Leute bereit seien, ausnahmslos jede Grundrechtsbeschränkung klaglos hinzunehmen. Wenn nun der richtige Notfall eintrete, werde eine übergroße Mehrheit bereit sein, „Grundrechte über Bord zu werfen“. Die Vernunftpanik verhindere Debatten: „Dabei ist auch eine sinnvolle Grundrechtseinschränkung eine Grundrechtseinschränkung, über die diskutiert werden kann und muß. Man kann gegen Ausgangssperren argumentieren und trotzdem kein Massenmörder sein.“ Der an der Universität Würzburg lehrende Staatsrechtler Horst Dreier (65) sagte gegenüber der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, daß die Eingriffe in zentrale Grundrechte der Bürger zur Bekämpfung der Pandemie nicht automatisch Verletzungen derselben seien: „Es kommt immer darauf an, ob die Eingriffe gerechtfertigt sind. Und das sind sie, wenn sie ergriffen werden, um andere und vielleicht höhere Rechtsgüter zu schützen. Konkret werden die Maßnahmen ja zum Schutz von Leib und Leben von Menschen in einer unbekannten Größenordnung ergriffen.“ Möglicherweise stelle sich irgendwann später heraus, daß manche Maßnahme nicht nötig war: „Entscheidend ist aber die derzeitige Perspektive, in der es naturgemäß große Prognoseunsicherheiten gibt.“ Er halte es für unverantwortlich, davon zu sprechen, daß „Grundrechte über Bord“ geworfen würden: „Das werden sie schon deshalb nicht, weil Grundrechts-eingriffe das Bestehen des Grundrechts nicht aufheben, sondern es voraussetzen. Und über Bord geworfen werden sie um so weniger, wenn die Maßnahmen befristet werden, wie das der Fall ist.“ Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier (76), meint in einer idea-Stellungnahme, daß die Corona-Pandemie ein Test für die rechtsstaatliche Demokratie sei. Die aktuellen Ausgangsbeschränkungen seien aus seiner Sicht aber noch verfassungsgemäß. Die ehemalige FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (68) schreibt in einem Beitrag für die Tageszeitung Die Welt (25. März), daß eine kritische Analyse staatlichen Handelns gerade in der Krise die moralische Pflicht eines jeden mündigen Bürgers sei: „Davon jedoch scheinen sich Teile der Bevölkerung bereits gelöst zu haben.“ Die Eingriffe in die individuelle Freiheit der Bürger müßten eine Ausnahme bleiben, verhältnismäßig sein und schnellstmöglich auslaufen. Denn auch in der Krise sei nicht alles erlaubt. (idea/JF)