© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Karl Jaspers‘ geringer Einfluß auf frühe Schulddebatte
Entlastende Lektüre
(dg)

Die Broschüre „Die Schuldfrage“, die der von der US-Besatzungsmacht wieder in sein Amt eingesetzte Heidelberger Philosoph Karl Jaspers 1946 veröffentlichte, gilt als Schlüsseltext in der Schulddebatte der Nachkriegsjahre. Für den Ideenhistoriker Anson Rabinbach haben diese Reflexionen über die moralische Katastrophe des Dritten Reiches nicht nur das neue Selbstverständnis eines „antimilitaristischen, neutralen und vor allem ‘ethischen Deutschland’“ formuliert (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4/2019). Sie leisteten auch den ersten Beitrag zum „bundesrepublikanischen Konsens“ (Jürgen Habermas), der demokratische Identität mit kollektiver deutscher Verantwortlichkeit für die NS-Verbrechen verknüpfte. Ob die Wirkung des Essays wirklich so nachhaltig die politische Kultur der Adenauer-Ära prägte, wie es Rabinbach und andere Interpreten behaupten, erschien dem Historiker Felix Lieb, Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung an der Universität München, jedoch zweifelhaft. Ein Argwohn, den seine auf Sondierungen im Jaspers-Nachlaß und der Analyse von Presse-Reaktionen beruhende Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte rechtfertigt. So habe sich die Erstausgabe doch nur schleppend verkauft, und aus Jaspers’ „vierfachem Schuldbegriff“ fischten die Leser primär Argumente zur eigenen Entlastung. 


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