© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Botschaften aus einer Sperrzone
Thriller: „Mitternacht in Tschernobyl“ beschreibt die Reaktorkatastrophe von 1986
Manfred Haferburg

Am 28. April 1986 arbeitete ich als Simulatorinstrukteur im Kernkraftwerk Jaslovske Bohunice, bei Trnava in der Slowakei. Als am Morgen ein Arbeiter, der mit dem Fahrrad zum Kraftwerk geradelt war, vorbei an dem empfindlichen Kontrollmonitor ins Kraftwerk gehen wollte, schlug dieser erstmalig in seiner Geschichte Alarm. Der Kollege war kontaminiert von Kopf bis Fuß. Kurz darauf kam der nächste Alarm von einem weiteren Arbeiter. Bald wurde klar: die Radioaktivität kommt aus Rußland. 

Als Fachmann interessierte mich Tschernobyl brennend, hatte ich es doch schon lange geahnt – die RBMK-Technologie war unsicher und die Russen hielten sich nicht an die Sicherheitsvorschriften. Ich blieb bei meiner Meinung, bis ich das Buch von Adam Higginbotham „Mitternacht in Tschernobyl. Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophe aller Zeiten“ las. Ich mußte mein Halbwissen revidieren und habe viel dazugelernt.

Radioaktive Wolken mußten vor Moskau abregnen

Um es gleich vorwegzusagen, das Buch ist viel besser, als der reißerische Subtitel und der schmuddelig-stumpf wirkende Schutzumschlag es versprechen. Vielleicht ist das Buch deshalb so gut, weil ein Journalist es geschrieben hat und nicht ein Kernphysiker. Als Physiker finde ich einige wissenschaftliche Fehlerchen im Inhalt. Aber dafür versteht ein Laie, was in Tschernobyl passiert ist und wird von der Dramatik des Geschehens mitgerissen. Wissenschaft und Emotionen zu so einem Cocktail mixen, das halte ich für große Erzählkunst.

Das Buch ist ein Umblätterer, spannend wie ein Thriller, obwohl es auch ein Wissenschaftsroman ist. Higginbotham hat den Spagat fertiggebracht, durch sorgfältige Recherche und eine vorurteilsfreie Erzählweise – eine Kunst, die heute kaum noch ein Journalist beherrscht. Es entstand ein Buch, das für den Laien spannend ist, aber für jeden Fachmann ein Muß. 

Der Autor bettet die Katastrophe in Gesellschaft und Leben in der Sowjetunion zu Zeiten des Beginns der Perestroika ein. Die Protagonisten werden für den Leser lebendig – ihre Sorgen und Hoffnungen, ihre Familien, ihr eher bescheidenes Leben in der Atomstadt Pripjat. Es wird erzählt, ohne daß den Menschen Bosheit oder Dummheit angedichtet wird. Ob Parteifunktionär, Wissenschaftler, Direktor oder Operator, sie werden zu Akteuren in einem sozialistischen Schicksalsspiel, das zwangsläufig in eine Spirale zum Desaster mündete.

Das Buch beschreibt atemberaubend die Ereignisse der Nacht vom 26. April 1986. Die jungen Operatoren an den Schaltpulten ahnten nichts von den schweren Konstruktionsmängeln ihres Reaktors, da die Konstrukteure dies aus ideologischen und wirtschaftlichen Gründen geheimhielten. Die Bedienungsmannschaft wurde durch ehrgeizige Vorgesetzte und ein schlampiges Versuchsprogramm zu Fehlern veranlaßt, die zur Katastrophe beitrugen. Sie wurden selbst Opfer höchster Strahlenbelastung und zu Sündenböcken für ein versagendes kommunistisches System. Ein System, an das sie zu allem Überfluß auch noch glaubten und das sie schmählich im Stich ließ.

Man erfährt, wie Politiker und Wissenschaftler in Selbsttäuschung verfallen konnten und aus Angst vor Blamagen und Sanktionen lieber den Tod von Menschen in Kauf nahmen. Selbst als die radioaktive Wolke schon über Skandinavien abregnete, bestritt Moskau weiter vehement irgendein Ereignis in der Sowjetunion. Das Zentralkomitee sprach von „bourgeoiser Verfälschung der Wahrheit und antisowjetischer Propaganda“. Doch dann, als der Wind drehte und die radioaktive Wolke sich Moskau näherte, flogen sowjetische Piloten Einsätze und brachten die Wolken durch impfen mit Silberjodit zum Abregnen – so blieb die Hauptstadt verschont.

Jahrzehntelang waren in der Sowjet-union Industrieunfälle stets unter den Teppich gekehrt worden. Aus der Tradition der Geheimniskrämerei wurde eine Kultur des Vertuschens. Und als Gorbatschow einen Zipfel des Teppichs hochhob, kam solch ein Gestank auf, daß seine Perestroika auch als Katastroika bezeichnet wurde – weil plötzlich so viele Katastrophen bekannt wurden. 

Als sich die Katastrophe nicht mehr verheimlichen ließ, framten sozialistische Haltungsjournalisten, daß nicht das Reaktorunglück schlimm sei, sondern seine Instrumentalisierung durch den Westen. Meldungen westlicher Medien wurden in Rußland als Hetze verurteilt. 

Derweil kämpften die „Liquidatoren“ in Tschernobyl einen aussichtslosen Kampf, um die Folgen der Kernschmelze des Monsterreaktors einzudämmen. Es fehlte an allem, nur nicht an Mut und Opferbereitschaft. Und eine große Chance wurde vertan. Viele Menschen wurden tödlichen Strahlendosen ausgesetzt und überlebten trotzdem bis ins hohe Alter. Wäre die Sowjetunion zu Forschung in der Lage gewesen, wüßte die Menschheit heute mehr über die gesundheitliche Wirkung von Strahlenbelastungen. 

Das Buch erzählt auch eine unbekannte Geschichte von der Verwandlung der Sperrzone – einer radioaktiven unbewohnbaren Hölle – durch ökologische Wiedergeburt und Erneuerung. Statt jahrzehntelang Krankheit und Tod im atomaren Ödland zu erleiden, erholte sich die Natur, die Pflanzen und Tiere erfuhren eine erstaunliche Gesundung. Forscher entdecken Geschöpfe, die im übrigen Teil der Ukraine längst verschwunden waren, darunter Wölfe, Elche, Braunbären und seltene Raubvögel. In Abwesenheit der Menschen gedeiht heute die Natur in einem „radioaktiven Eden“. 

Das Reaktorunglück in Tschernobyl kostete die Sowjetwirtschaft 130 Milliarden US-Dollar und konsumierte jahrelang gewaltige Wirtschaftsressourcen. Der rote Gigant, durch das Wettrüsten im Wanken, sank durch Tschernobyl in die Knie. Den Bonzen in Moskau ging das Geld für die Unterdrückung der westlichen Vasallenvölker aus, und Gorbatschow verlor die Lust am Entsenden der Panzer der Roten Armee in die Länder der aufmüpfigen Völker. 

So rettete Tschernobyl 1989 auch mir das Leben. Ich hätte wohl nicht noch ein paar Jahre im Stasi-Knast überlebt, wie Honecker und Mielke das eigentlich für mich vorgesehen hatten. So warf mich die Stasi im Oktober 1989 mit verbundenen Augen aus einem fahrenden Auto auf eine regennasse Straße in Berlin-Köpenick. Zwei Wochen später war die DDR passé. Aber das ist eine andere Geschichte.






Manfred Haferburg, Jahrgang 1948, studierte Kernenergetik und arbeitete im Atomkraftwerk Greifswald. Heute lebt er in Paris und berät Risikoindustrien auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit.

Adam Higginbotham: Mitternacht in Tschernobyl. Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophe aller Zeiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019, gebunden 613 Seiten, 25 Euro