© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

„Ostern fällt nicht aus!“
Die kommenden Feiertage begehen die Deutschen traditionell im Kreise der Familie oder der Gemeinde. Erstmals überhaupt ist dies nicht möglich. Der evangelische Journalist Helmut Matthies über das Versagen der Kirchen, Leid und Verantwortung in Zeiten von Corona
Moritz Schwarz

Herr Matthies, fällt das Osterfest dieses Jahr quasi aus?

Helmut Matthies: Ostern fällt nie aus! So schlimm Corona auch ist, haben Christen schon in ganz anderen Krisen Ostern gefeiert: in Kriegen, Hungerzeiten oder Verfolgung. Während wir in Freiheit leben, werden in rund siebzig sozialistischen, islamischen, hinduistisch und buddhistisch geprägten Staaten fast 200 Millionen Christen schwer diskriminiert. Tausende befinden sich in Haft.

Verglichen damit ist das natürlich „lächerlich“. Dennoch steht uns ein Osterfest ohne Familie und Gemeinde bevor.

Matthies: Warum eigentlich hinterfragen das weder Kirchen noch Medien in einem demokratischen Staat? Ostern ist schließlich das wichtigste Fest der Christenheit, wenn nicht der Weltgeschichte – bezeugt es doch, daß erstmals jemand den Tod überwunden hat: Jesus Christus.

Was meinen Sie mit hinterfragen?

Matthies: Wenn selbst der Bundestag in dieser Krisenzeit tagen kann, warum sollten dann nicht – bei konsequenter Einhaltung von Abstandsregeln, wie jetzt im Reichstag – auch Gottesdienste stattfinden können? Zumal laut Statistik 2018 nur durchschnittlich 3,3 Prozent der Mitglieder evangelischer Landeskirchen und 9,3 Prozent der römisch-katholischen Kirche regelmäßig einen Gottesdienst besuchen. In zahlreichen Kirchen hätten da viele eine ganze Bankreihe für sich.

An Ostern sind die Kirchen allerdings voller.

Matthies: Dann sollte eben ein Verantwortlicher der Gemeinde, der um die Platzverhältnisse weiß, vor der Kirche achtgeben, daß nicht zu viele hineinströmen. So wird ja auch häufig bei Postämtern oder Supermärkten verfahren. Ist der Andrang größer als die Zahl derer, die gemäß Abstandsregeln Einlaß finden, könnte man den Gottesdienst wiederholen. Daß dies alles kein Haupthema in den Kirchen ist, erweckt den Eindruck, daß vielen offenbar der Gemeindegottesdienst nicht so wichtig ist, wie er sein sollte. Das ist für mich auch ein Zeichen einer kirchlichen Krise.

Wieso der Kirchen?

Matthies: Weil evangelische Landeskirchen schon vor den Verbotsregeln des Staates angekündigt haben, Gemeindegottesdienste ausfallen zu lassen.

Zeugt das nicht von der Bereitschaft, in der Krise mit gutem Beispiel voranzugehen?

Matthies: Nein. Denn wenn jeder Zeitungsladen geöffnet sein darf, weil er als „systemrelevant“ gilt, sollte das doch erst recht für die Kirchen gelten – wenn sie konsequent für die Einhaltung der Abstandsregeln sorgen. Denn der gemeinsame Gottesdienst ist deshalb so wichtig, weil Glaube und Gemeinschaft nicht zu trennen sind. Auch kann man die Gegenwart von Jesus Christus in Brot und Wein beim Abendmahl nicht online feiern. Die Gottesdienstübertragungen im Internet oder bei Bibel-TV und im ERF – früher Evangeliums-Rundfunk – sind begrüßenswert, ja oft vorbildlich, aber auf Dauer kein Ersatz. Insgesamt vermisse ich, daß zu wenig getan wird, um die Angebote des christlichen Glaubens bekanntzumachen. Wenn sogar der vielgescholtene US-Präsident für Sonntag, den 15. März, einen nationalen Gebetstag in den USA ausrufen konnte, frage ich mich, warum die Kirchen nicht Ostern als nationalen Gebetstag nutzen. Das wäre in der gegenwärtigen Krise ein ermutigendes Zeichen!

Allerdings sind ein paar Wochen ohne Gottesdienst auch kein „Weltuntergang“.

Matthies: Natürlich nicht. Das erleben ja auch viele Christen in Verfolgungssituationen. Aber warum haben sich Kirchenleitungen bei uns in Deutschland nicht wenigstens um verantwortbare Ausnahmeregelungen bemüht? Ich bin froh, daß manchen Gemeinden wenigstens originelle Ersatzlösungen eingefallen sind. Etwa einem katholischen Pfarrer im badischen Achern, der die Gemeinde bat, ihm Porträtfotos zu schicken. Die klebte er in die Kirchenbänke, um die Bilder während der Messe, die die Gemeinde im Internet verfolgen kann, vor Augen zu haben. Zumindest für Ostern könnten die Kirchen auf eine Ausnahmeregelung drängen. Und zwar nicht trotz der Krise, sondern wegen ihr!

Weshalb „wegen“?

Matthies: Dies ist eine Zeit, in der alle erfahren, daß wir eben nicht alles im Griff haben und gegen ein unsichtbares Virus noch immer kein Mittel gefunden worden ist. Millionen Mitbürger sind isoliert, verunsichert und haben teilweise panische Angst vor der Zukunft. Jetzt sollten die Kirchen dazu ermutigen, Gott zu vertrauen und sich an seine Gebote zu halten. Dazu gehört der Trost des Evangeliums, also einer frohmachenden Botschaft. Deshalb ist dieses Osterfest unglaublich aktuell.

Die meisten Deutschen haben allerdings nicht den dazu nötigen gefestigten Glauben. Was sagen Sie uns „normalen“ Menschen?

Matthies: Die entscheidenden Fragen im Leben – die nach Leid, Schuld und Tod – betreffen alle Menschen gleich. Ich empfehle jedem, der nach Antworten sucht, sich zu erkundigen, was Philosophien oder Religionen für Lösungen haben – also etwa den Koran mit dem Neuen Testament zu vergleichen. Man wird feststellen, daß der christliche Glaube Einzigartiges bietet: Nur er ermöglicht Vergebung der Schuld und immer wieder erfahrbaren Neubeginn. Nur er kennt einen persönlich erlebbaren Gott, den man als Vater anreden darf. Sein Sohn, Jesus Christus, sagt zu, jedem selbst im tiefsten Leid beizustehen. Und er hat ermöglicht, daß für einen Christen der Tod ein Sprung in die Arme Gottes ist.

Für viele sind das allerdings nur Worte, denen sie vielleicht gerne trauen würden, aber – da zu phantastisch – nicht können.

Matthies: Das kann ich gut nachvollziehen, denn ich bin selbst als Heide aufgewachsen. Doch wer wissen will, wie es ist zu fliegen, muß bereit sein, in einem Flugzeug zu starten. Und wer wissen will, ob es stimmt, was dieser Christus in der Bibel behauptet, muß sich auf ihn einlassen. Nur dann wird er ihn als Sinngeber, Tröster und Heiland erfahren, wie mittlerweile Milliarden bezeugen können.

Tatsächlich haben Sie selbst Leid erlebt: In einem Kapitel Ihres neuen Buchs, „Gott kann auch anders“, schreiben Sie über den Krankheitstod Ihrer Frau.

Matthies: Im September 2017 ging meine Frau als Ärztin im Alter von 61 Jahren in Vorruhestand, weil sie ein missionarisch-diakonisches Projekt plante. Doch nur zwei Wochen nach Beginn des Ruhestands kam die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ein Arzt sagte mir: „Seien Sie froh, wenn sie nicht schon in zwei Monaten tot ist.“ Es wurden dann acht. Doch es war ein furchtbares Leiden. Mir fiel es zunehmend schwer, an Gottes Liebe zu glauben. Meine Frau dagegen reagierte ganz gelassen: „Ich bin auch jetzt in Gottes Hand. Ich weiß, wohin ich gehe.“ Ich habe damals erst gelernt, zu verstehen, daß allein Gott Herr über Leben und Tod ist. Das einzige Gebet, daß er zu hundert Prozent erhört, steht im Vaterunser: „Dein Wille geschehe“. Meine Frau ist in Frieden heimgegangen. Und Christen ist verheißen, daß sie einander in der Ewigkeit wiedersehen.

Ein anderes Gewissensthema tritt in dieser Krise ebenfalls hervor, in der wir uns durch Zu-Hause-bleiben schützen sollen: Wohnungslose haben keine Möglichkeit dazu. Davon gibt es (ohne sogenannte Flüchtlinge) 275.000 in Deutschland. Eigentlich kein nicht zu bewältigendes Problem. Dennoch lösen wir es nicht. Warum?

Matthies: Es wird schon eine Menge getan, etwa von den evangelischen Stadtmissionen, aber das reicht nicht. Wer schaut auch schon unter Brücken oder in Winkel, wo Obdachlose hausen? Im Zuge meiner diakonischen und gemeindlichen Ausbildung hatte ich mit ihnen zu tun. Dabei habe ich allerdings erlebt, daß es – so seltsam das klingt – gar nicht wenige Obdachlose gibt, die tatsächlich so leben wollen wie sie leben. Natürlich sind die meisten unfreiwillig in Not geraten und benötigen dringend Unterstützung. Man hilft ihnen aber in der Regel nicht, gibt man ihnen Geld. Denn leider wird davon fast immer Alkohol gekauft. Falls jemand bettelt, biete ich ihm an, ihm ein belegtes Brötchen und Limonade zu besorgen, empfehle ihm die vielen Angebote von Kirchen und Staat und schenke ihm ein kleines Neues Testament. Denn wichtig ist ja, daß auch der Obdachlose einen tragfähigen Sinn im Leben findet.

Aber sie brauchen doch auch Geld für die Obdachlosenunterkunft.

Matthies: Das Beste ist Hilfe zur Selbsthilfe. Ich kaufe Obdachlosen in der Regel ein Straßenmagazin ab, das mittlerweile viele Hilfsorganisationen vertreiben. Von dem Verdienst können sie mehr als nur die Unterkunft bezahlen. Vor allem aber haben sie dann nicht das Gefühl, gebettelt zu haben.

Die Frage war, warum wir als Gesellschaft Obdachlosigkeit hinnehmen? Während wir etwa fürs Klima oder die Einreise vor allem junger Männer „auf die Barrikaden gehen“.

Matthies: Fernstenliebe ist eben oft einfacher als Nächstenliebe. Eine Petition für mehr Frauenrechte in Afghanistan zu unterzeichnen oder während der Unterrichtszeit für den Klimaschutz zu demonstrieren, das ist nicht nur bequemer, sondern gilt auch als progressiver als Obdachlosen zu helfen, die manchmal stinken und sich gelegentlich auch noch sehr befremdlich verhalten.

Also Heuchelei?

Matthies: Das ist mir zu hart. Seien wir ehrlich: es ist allzu menschlich. Wo lernen heute etwa junge Leute noch, was es heißt, anderen zu dienen? Sowohl die Wehrpflicht als auch den Zivildienst hat man leider abgeschafft!

Und was ist mit den Konservativen? Die reden von Solidarität der Deutschen untereinander – tun aber auch nichts dagegen.

Matthies: Das erlebe ich anders – jedenfalls was die theologisch und oft auch politisch konservativen Christen angeht, die Evangelikalen beziehungsweise die Pietisten. Zu ihren Organisationen gehören im Protestantismus die meisten Diakonissen, viele diakonische Einrichtungen und die Mehrheit der Entwicklungshelfer. Sie reden allerdings kaum über ihr weithin vorbildliches Engagement

Daher der falsche Eindruck, Konservative engagierten sich diesbezüglich nicht?

Matthies: Und – nach meinen Erfahrungen – da linksorientierte Christen mehr gesellschaftspolitisch und damit öffentlichkeitswirksamer aktiv sind als konservative, die sich eher im Bereich von Diakonie, Seelsorge und Mission betätigen.

Aber was ist mit der Politik? Während Linke für Migranten auf die Straße gehen, tut dies etwa die AfD für Obdachlose nicht.

Matthies: Für die Obdachlosen geht bisher keine Partei auf die Straße. Wichtiger, als zu demonstrieren, wäre sicher auch, praktisch zu helfen. Geht es Linken mehr um Migranten und Klimaschutz, so setzen sich Rechte eher für das Lebensrecht ungeborener Kinder und die Förderung von Ehe und Familie ein.

Sie gehören zu den wenigen, die den Kampf der Kirchen gegen die AfD für überzogen halten. Warum?

Matthies: Ich bin kein AfD-Mitglied und wenn dort menschenverachtende Aussagen fallen, wird das zu Recht kritisiert. Doch sollte das für alle Parteien gelten! Als im Februar auf der Strategiekonferenz der sozialistischen Linken in Kassel Erschießungsphantasien geäußert wurden, habe ich keinen kirchlichen Protest vernommen. Ebensowenig wie gegen die unchristlichen Positionen der Grünen bei der Abtreibung. Die Kirchen sollten bei bedenklichen Entwicklungen in der AfD mit deren Repräsentanten reden, so wie sie zu Recht etwa mit Muslimen einen Dialog führen – obwohl im Koran die Basis des christlichen Glaubens geleugnet wird. Statt dessen lese ich von geradezu haßerfüllten Kommentaren einzelner Kirchenleiter gegen die AfD. Sollten sie ihre massiven Anklagen belegen können, dürften sie konsequenterweise von AfD-Anhängern auch keine Kirchensteuern mehr annehmen. Daß die sie überhaupt noch bezahlen, ist schon fast ein Akt von Feindesliebe.

Warum sind von den Kirchen mehr links-grüne Aussagen zu hören als genuin christliche?

Matthies: Beide großen Kirchen befinden sich in einer tiefen Identitätskrise und wissen oft nicht mehr, was ihr eigentlicher Auftrag ist. Deshalb flüchten sich manche Bischöfe und viele Synoden in Bereiche, für die in einer Demokratie Parteien zuständig sind. Da werden dann in Kirchen der Klimawandel, die Genderei und der Rechtsextremismus (bisher nie der Extremismus von links) zu Hauptthemen. Von daher auch die vielfach zu beobachtende geistliche Hilflosigkeit in der aktuellen Krise. Dabei denken laut einer Insa-Umfrage für die Evangelische Nachrichtenagentur idea in der derzeitigen Corona-Krise 41 Prozent der Deutschen vermehrt über den Lebenssinn nach. Also wann, wenn nicht jetzt, wäre die Stunde der Kirchen, den Menschen genau das zu sagen, was nur sie ihnen sagen können: Kehrt um zu Gott! 






Helmut Matthies, leitete bis 2017 die Evangelische Nachrichtenagentur idea mit dem Magazin idea-Spektrum. Seitdem ist er Vorsitzender des idea-Trägervereins und Geschäftsführer des Vereins „Glaube, Mut und Freiheit. Christen in der DDR und danach“. Der Pfarrer im Ruhestand veröffentlichte Ende 2019 das Buch „Gott kann auch anders. Zwölf Erfahrungen, die dem Zeitgeist widersprechen“. Geboren wurde er 1950 in Dungelbeck bei Peine.  

Foto: Improvisierte katholische Messe in Achern/Baden: „Warum sind zum höchsten Fest der Christen keine Gottesdienste – bei konsequent beachteten Abstandsregeln – möglich, wenn sogar der Bundestag in diesen Zeiten tagen kann? Warum hinterfragt das in einem demokratischen Staat niemand in Politik und Medien? Es ist auch ein Zeichen für die Krise der Kirchen“

 

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