© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Schaffen die das?
Corona-Pandemie I: Eine große Mehrheit vertraut in der Krise der Regierung, obwohl sie offenbar die Lage anfangs falsch einschätzte
Jörg Kürschner

Die Corona-Krise hat die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland erheblich verändert. Die Jahre des jähen Umfrage-Absturzes scheinen für CDU/CSU vorbei, denen derzeit deutlich über 30 Prozent der Wähler am ehesten die Lösung der aktuellen Probleme zutrauen. Dieser Kompetenzzuwachs überrascht, ist doch das Krisenmanagement der Großen Koalition geprägt von erheblichen Fehleinschätzungen und Mängeln.

Die Versäumnisse liegen bereits sieben Jahre zurück. Anfang 2013 war der „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ erschienen. Darin wird das Szenario einer Infektionswelle mit einem neuen Virus (Sars/Corona) skizziert, das aus Asien nach Deutschland schwappt. Wörtlich heißt es in der Bundestagsdrucksache 17/12051: „Der Erreger stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war damals rund sieben Jahre im Amt. Doch Konsequenzen aus dem Bericht wurden nicht gezogen. Im Gegenteil. Die „neuartige“ Pandemie wurde parteiübergreifend ignoriert.

Merkel hüllte sich           sehr lange in Schweigen

Noch am 27. Januar, da gab es in Deutschland bereits mehrere Verdachtsfälle, zeigte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn entspannt. „Grundsätzlich sind wir wachsam, wir nehmen die Dinge sehr ernst, wir sind aber gut vorbereitet.“ Und der CDU-Politiker bemühte sich um eine Einordnung. „An einer Grippe, wenn sie schwer verläuft, sterben in Deutschland bis zu 20.000 Menschen im Jahr.“ Ähnlich äußerte sich Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI). Die Gefahr durch das Coronavirus sei nach wie vor „sehr gering“. Es sollte etwa ein Monat vergehen, bis Spahns voreiliger Einschätzung widersprochen wurde. Der Virologe Alexander Kekulé sagte, Spahn schätze den Ernst der Lage nicht richtig ein. Zuvor hatte der Experte schon Einreisekontrollen und flächendeckende Screenings zum Schutz vor der Epidemie empfohlen. Die Behörden müßten „die Zigarette austreten, bevor sie einen Waldbrand verursacht“. Das sei möglich, wenn in Deutschland künftig jeder Fall einer schweren Atemwegserkrankung sofort auf das Coronavirus getestet werde.

Ende Februar, Anfang März war die Politik endlich aufgewacht. Die Bundesregierung verhängte ein Ausfuhrverbot für Atemmasken und andere Schutzausrüstung. „Der Krisenstab stellt die außerordentliche Dringlichkeit für die Beschaffung medizinischer Schutzausrüstung fest“, hieß es zur Begründung. Mit der Anordnung werde einer „Gefährdung der Deckung des lebenswichtigen Bedarfs im Inland entgegengewirkt“, war im Bundesanzeiger zu lesen. Inzwischen meldeten Universitätskliniken Diebstähle von Desinfektionsmitteln. Und es hagelte Absagen von Großveranstaltungen wie der Internationalen Tourismusbörse (ITB) in Berlin, der Internationalen Handwerksmesse in München, der bedeutenden Industriemesse in Hannover, die zunächst auf Juli und dann auf 2021 verschoben wurde. 

Erst nach der Absagen-Serie brachte Spahn einen Verzicht von Großveranstaltungen mit mehr als tausend Teilnehmern ins Gespräch. Zur Begründung verwies er auf entsprechende Regelungen in Frankreich und der Schweiz. Merkel hatte sich bis dahin in Schweigen gehüllt.Am 11. März sah sich die Kanzlerin dann in die Offensive gezwungen. An diesem Tag titelte die Bild-Zeitung: „Kein Auftritt, keine Rede, keine Führung in der Krise. Die Kanzlerin und das Corona-Chaos“. Im Saal der vollbesetzten Bundespressekonferenz rief sie zusammen mit Spahn und Wieler zur Solidarität in der Corona-Krise auf und mahnte Verantwortungsbewußtsein an. Erstmals wurde eine Strategie der Bundesregierung sichtbar. „Es geht um das Gewinnen von Zeit, um das Gesundheitswesen nicht zu überlasten.“ Die Infektionsgeschwindigkeit müsse verlangsamt und die Zahl der Krankenhausbetten verdoppelt werden.

Wenige Tage später verhängte Seehofer umfassende Kontrollen und Einreiseverbote an den Grenzen zur Schweiz, Österreich, Frankreich, Luxemburg und Dänemark. „Die Lage ist ernst, die Ausbreitung des Virus muß verlangsamt werden.“ Die Regierung einigte sich mit den 16 Ländern mühsam auf die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen bis zum Ende der Osterferien. Daß der Ernst der Lage erkannt worden war, zeigte sich in einer Fernsehansprache Merkels. Darin spricht sie von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg und rechtfertigte damit die drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Der aktuell lauter werdenden Forderung, die Wirtschaft alsbald wieder hochzufahren, begegnet die Bundesregierung mit dem Hinweis, der Höhepunkt der Krise stehe noch bevor. „Es gibt vieles, was wir noch nicht präzise einschätzen können“, mußte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) einräumen. Auch eine freiwillige App, um Corona-Kontakte nachzuverfolgen, ist noch nicht vom Tisch.

Dank der Präsenz der Regierungschefin und ihres Kanzleramtsministers geriet vorübergehend in den Hintergrund, daß sich Spahn angesichts der Klagen vieler Krankenhäuser und niedergelassener Ärzte über fehlende Schutzausrüstungen und Versäumnisse für seine großspurigen Worte zu rechtfertigen hatte, Deutschland sei „gut vorbereitet“. Das Bundesinnenministerium verwies in Sachen Notfallversorgung auf die Länder. „Für die Sanitätsmaterialbevorratung für Lagen zu Friedenszeiten, so auch für die aktuelle Pandemie, sind die Länder zuständig.“ Zuständig fühlte sich das Seehofer-Ministerium aber in Sachen Krisenkommunikation.

In einer als „Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften Analyse, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, werden Horrorszenarien entwickelt, etwa der Tod von einer Million Menschen, wenn gegen die Pandemie nichts unternommen werde. Die Lageeinschätzung erinnert an den Bericht von 2013, den offenbar niemand gelesen hatte. Nach der Krise müsse es „eine Verpflichtung geben, solche Pläne zu üben und Vorräte zu haben für solche Lagen“, gestand Spahn kleinlaut ein.