© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Abstrich statt Zapfenstreich
Bundeswehr: Soldaten müssen gegen den unsichtbaren Feind Corona zu Felde ziehen / Abzug aus Afghanistan wird vorgezogen
Peter Möller

Die Uniformen sitzen tadellos, der Gleichschritt ist perfekt und der alte Karabiner 98k wird mit absolut präzisen Handgriffen präsentiert. So zeigt sich das Wachbataillon der Bundeswehr der Öffentlichkeit, wenn in Berlin Staatsgäste aus aller Welt empfangen werden.

Doch angesichts der Corona-Krise bleiben auch beim Wachbataillon die Ausgehuniformen vorerst im Schrank. Statt Präsidenten oder Königen mit dem preußischen Präsentiergriff die Ehre zu erweisen, packen die Vorzeigesoldaten der Bundeswehr im Zuge der sogenannten Amtshilfe im „Grünzeug“ mit an. Ende vergangener Woche wurden die Soldaten aus der Berliner Julius-Leber-Kaserne zum Flughafen Leipzig/Halle in Marsch gesetzt, um dort 32 Tonnen Hilfsmaterial aus China, darunter zwei Millionen Atemmasken und 300.000 Schutzkittel zu verladen und in die Hauptstadt zu bringen. Dort wurden die dringend benötigten Masken und Kittel ab Montag unter anderem an Kliniken, Pflegeheime und die Berliner Polizei verteilt.

Seit Ende vergangener Woche ist die von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) angekündigte Truppe aus 15.000 Soldaten für den Einsatz an der Corona-Front einsatzbereit. Unter der Bezeichnung „Einsatzkontingent Hilfeleistung Corona“ sollen die Soldaten unter dem Kommando des „Nationalen Territorialen Befehlshabers“, des Inspekteurs der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, auf Anforderung der zivilen Behörden Amtshilfe leisten, wie etwa beim Transport von Hilfsmaterial. Denn gerade für solche Fälle ist die Bundeswehr beispielsweise mit ihren 7.500 Lastkraftwagen bestens ausgerüstet. Aber auch für großflächige Desinfektionen verfügen die Streitkräfte über das notwendige Gerät und Personal. Zudem fliegt die Luftwaffe derzeit Intensivpatienten aus besonders schwer betroffenen Ländern wie Frankreich und Italien zur Behandlung nach Deutschland.

Ehrliche Debatte über     die strategischen Reserven

Ein wichtiger Faktor ist zudem das Sanitätswesen der Bundeswehr, das seine Krankenhäuser und Laborkapazitäten zur Verfügung stellt. „Die bundeswehreigenen Krankenhäuser sind schon zu rund 80 Prozent mit zivilen Patienten belegt, zusätzlich helfen wir an anderer Stelle mit medizinischem Fachpersonal und Gerät aus“, sagte Generalleutnant Schelleis dem Nachrichtenportal t-online. „Wir unterstützen mit Material aller Art und Lagerkapazitäten. Und wir packen überall da an, wo niemand sonst die Hilfe leisten kann.“

Nach Angaben des Wehrbeauftragten des Bundestages, Hans-Peter Bartels, ist der Einsatz von Bundeswehrsoldaten in der Corona-Krise schon jetzt der „größte Einsatz im Inneren in der Geschichte der Bundeswehr.“ Nicht immer kann die Bundeswehr allerdings der Bitte um Hilfe nachkommen. Etwa wenn es darum geht, den häufig geäußerten Wunsch von Bundesländern nachzukommen, Ärzte, Pflegekräfte und medizinische Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Häufig müßten gerade solche Anfragen abgelehnt werden, heißt es von seiten der Bundeswehr auf Nachfrage der ARD. Lediglich in Ausnahmefällen, wie im besonders schwer vom Ausbruch der Corona-Epidemie betroffenen Landkreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, stellt die Bundeswehr auch Schutzkleidung aus ihren eigenen Beständen zur Verfügung.

Mittlerweile gibt es erste Stimmen, die vor einer Überlastung der Bundeswehr warnen. So verwies der Abteilungsleiter Strategie und Einsatz des Verteidigungsministeriums, Generalleutnant Bernd Schütt, in der vergangenen Woche in einem Brief an den Verteidigungsausschuß auf drohende Engpässe in der Versorgung: „Aufgrund der angespannten Marktsituation in der Beschaffung und des Eigenbedarfs der Bundeswehrkrankenhäuser in der Gesundheitsversorgung stößt die Bundeswehr auch an Grenzen in der Unterstützung mit persönlicher Schutzausstattung und medizinischem Gerät. Dies gilt insbesondere für Beatmungsgeräte. Hintergrund ist hier unter anderem die Auflösung ehemals vorhandener Reservelazarettgruppen“, zitierte der Fachblog „Augengeradeaus“ aus dem Schreiben.

Auch andere Versäumnisse der Vergangenheit rücken in den Fokus. So war etwa die Großproduktion von medizinischen Produkten durch die Bundeswehr-Apotheken zurückgefahren worden, nachdem der Bundesrechnungshof 2012 in einem Prüfbericht die Herstellung von Medikamenten durch die Bundeswehr als zu teuer kritisiert und geraten hatte, diese auf dem freien Markt einzukaufen. Angesichts der Corona-Pandemie will die Bundeswehr nun wieder eigenes Desinfektionsmittel herstellen. „Was schwierig ist, da die Fähigkeit zur Eigenproduktion von Medikamenten und Medizinprodukten, die der Sanitätsdienst früher hatte – jetzt erkennt man, warum! – aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben werden mußte“, teilte der Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Ulrich Baumgärtner, in der vergangenen Woche auf Twitter mit. 

Mit kritischem Blick betrachten auch andere innerhalb der Truppe die Situation. Das reicht von vereinzelten Stimmen, die monieren, daß sie als Soldaten vor allem Lückenbüßer für fehlende Zivilkräfte seien. Und was passiere eigentlich, wenn die Lage sich zuspitzt, die Bevölkerung nicht mehr ruhig und mehrheitlich besonnen die Beschränkungen akzeptiert? Wieweit dürfen oder können überhaupt Soldaten dann im Inneren Sicherheit gewährleisten oder wiederherstellen? 

Fragen, die auch manche Politiker beschäftigen. „Auf den Einsatz der Bundeswehr im Innern bei schweren Notlagen können sich die Deutschen seit 65 Jahren verlassen“ resümiert der verteidigungspolitische Sprecher der AfD im Bundestag, Rüdiger Lucassen, die Situation gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Neben der Rechtssicherheit braucht die Truppe jedoch auch personelle und materielle Sicherheit, um die eigentlichen Aufträge, die Landes- und Bündnisverteidigung, erfüllen zu können.“ Der Abgeordnete und pensionierte Oberst verweist in diesem Zusammenhang auf die Forderungen seiner Fraktion, unter anderem die Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht. „Unser Konzept ‘Streitkraft Bundeswehr’ sieht die Aufstellung eines Reservistenkorps für den Einsatz im Innern vor. 50.000 Mann, regelmäßig trainiert, gut bezahlt und für den Auftrag Heimatschutz voll ausgerüstet. Kräfte, die per Dekret einberufen werden können.“ Denn, da ist sich Lucassen sicher, die Corona-Krise werde „nicht die letzte Notlage für Deutschland“ sein.

Die aktuelle Pandemie habe „auch eine sicherheitspolitische Dimension, deren Bedeutung noch wachsen wird“, lautet die Schlußfolgerung eines Thesenpapiers aus dem „German Institute for Defence and Strategic Studies“, dem Think-Tank der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Notwendig sei eine „ehrliche Auseinandersetzung über Deutschlands strategische Reserven.“ Das umfasse mehr als die rein materiellen Aspekte wie Lieferketten oder Bevorratung, sondern auch „das schon mehrfach politisch beerdigte Thema eines verpflichtenden Dienstjahres“.

Während die Bundeswehr an der „Heimatfront“ versucht, die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu mildern, könnten ihre Soldaten an anderer Stelle ganz konkret von den Folgen betroffen sein: in Afghanistan. Denn die im Zusammenhang mit den Friedensgesprächen zwischen den Taliban und den Vereinigten Staaten geplante Reduzierung der internationalen Truppen in dem Land könnte sich durch das Coronavirus deutlich beschleunigen. Derzeit befinden sich noch rund 1.300 deutsche Soldaten in Afghanistan im Einsatz. Laut Spiegel wird in der Bundeswehr davon ausgegangen, daß die Truppe bis Sommer von heute knapp 1.300 um 250 Mann auf rund 1.000 Soldaten verkleinert wird. Hintergrund für die Reduzierung ist das Ziel, die nur „eingeschränkt zur Verfügung stehenden medizinischen Kapazitäten im Land durchhaltefähiger zu machen“, heißt es dazu in einem internen Bericht der Bundeswehr. Denn es wird damit gerechnet, daß sich das Virus auch am Hindukusch massiv ausbreitet und davon auch die in Afghanistan stationierten internationalen Soldaten betroffen sein können.

Manche Beobachter vermuten, daß die Krise den politisch Verantwortlichen gelegen kommt, um das Fehlen einer Exitstrategie in Afghanistan zu kaschieren. So warf der verteidigungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Rüdiger Lucassen, der Bundesregierung in diesem Zusammenhang Konzeptlosigkeit vor: „In Afghanistan beginnt jetzt der letzte Akt eines verlorenen Krieges. Ein Rückzug, der nicht so heißen darf“, sagte er der JF. „Auslandseinsätze, wie in Afghanistan, brauchen von Beginn an eine klare Exit-Strategie. Die hat die Bundesregierung nie gehabt. Den Preis für dieses Versagen bezahlten vor allem unsere Soldaten.“

Erinnerung an das          Karfreitagsgefecht 2010

Die Meldungen über die Truppenreduzierung kommen zu einem Zeitpunkt, an dem an die bislang verlustreichsten Kämpfe der Bundeswehr in Afghanistan erinnert wird: das Karfreitagsgefecht vom 2. April 2010. An diesem Tag lieferten sich Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 373 aus Seedorf beim Dorf Isa Khel nördlich von Kunduz stundenlang Kämpfe mit den Taliban. Dabei starben drei deutsche Soldaten: der Hauptgefreite Martin Augustyniak, Hauptfeldwebel Nils Bruns und der Stabsgefreite Robert Hartert. Für die Truppe war die Intensität der Kämpfe und der Verlust gleich dreier Kameraden sowie die Verwundung mehrerer weiterer Soldaten ein Schock. Obwohl bereits zuvor Soldaten der Bundeswehr bei Kampfhandlungen getötet worden waren, hat das Karfreitagsgefecht wie kein anderes Ereignis die Bundeswehr nachhaltig geprägt. Der 2. April ist mittlerweile innerhalb der Bundeswehr so etwas wie ein inoffizieller Gedenktag für die eigenen Gefallenen.

Die herausgehobene Bedeutung des Karfreitaggefechts zeigt sich auch daran, daß Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer am Jahrestag eigens einen Tagesbefehl an die Truppe herausgegeben hat. Mit den Ereignissen dieses Tages sei für die Bürger in Deutschland erstmals sichtbar geworden, „daß die Soldaten der Bundeswehr im Gefecht auch töten müssen und sterben können“, heißt es darin ungewohnt deutlich. „Für die Bundeswehr verdeutlicht dieser Tag, was den Beruf des Soldaten in letzter Konsequenz ausmacht: die Fähigkeit, im Kampf zu bestehen. Und auch die Bereitschaft, für den Auftrag, den der Deutsche Bundestag der Bundeswehr gibt, das eigene Leben einzusetzen.“ Der traurige Jahrestag hat damit gezeigt: Das Karfreitagsgefecht wird die Bundeswehr und ihre Soldaten auch nach dem vollständigen Abzug aus Afghanistan weiter beschäftigen.