© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Flämische Ikonen der nordischen Renaissance
Corona hat die Genter Van-Eyck-Ausstellung gestoppt. Der Katalog sorgt aber dafür, daß die „optische Revolution“ nun in häuslicher Quarantäne stattfindet
Dirk Glaser

Es sollte eine „Ausstellung globalen Ranges“ werden. Doch auch das Museum voor Schone Kunsten in Gent, das im Januar seine Pforten mit dem Versprechen geöffnet hatte, den Besuchern die Werke der altniederländischen Meister Hubert und Jan van Eyck in einzigartiger Vollständigkeit zu präsentieren und ihnen ein einmaliges Erlebnis zu bescheren, mußte Anfang März vor der Corona-Pandemie kapitulieren. Und die damals optimistisch in Aussicht gestellte Fortsetzung zu Ostern ist inzwischen ebenfalls Geschichte.

Jedoch bleibt ein virtueller Museumsbesuch jenseits des Internets möglich. Zwar vermittelt keine noch so perfekte Reproduktion die Aura bedeutender Kunstschöpfungen. Aber der opulente Ausstellungskatalog, der die „optische Revolution“ der Brüder van Eyck in der nun europaweit obligaten Quarantäne für jeden Kunstfreund in den eigenen vier Wänden stattfinden läßt, kommt diesem Erlebnis ziemlich nahe. Sein eigentlicher Wert liegt indes in der permanent betonten „streng wissenschaftlichen“, kunst-, kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ausleuchtung des Schaffensumfelds zweier in Gent und Brügge beheimateter Handwerker, die um 1430 kometengleich am europäischen Kunsthimmel erschienen.

Der Band, der die Resultate einer 200jährigen, inzwischen eine Bibliothek füllenden Van-Eyck-Forschung in hochprozentiger Konzentration präsentiert und der wohl für lange Zeit Maßstäbe setzt, dürfte für spätere Historiker noch aus einem anderen Grund interessant sein. Die gern überlesenen Grußworte der flämischen Regierung, des Genter Bürgermeisters, seines Beigeordneten für Kultur, der Museumsdirektorin und des Projektleiters „van Eyck“ verraten viel darüber, warum ein solcher kolossaler Aufwand getrieben wird mit zwei spätmittelalterlichen, „toten weißen Männern“. Die Van-Eyck-Schau soll demnach der krönende Abschluß einer kulturpolitischen Offensive sein, die 2018 mit einer Rubens-Ausstellung in Antwerpen einsetzte und 2019 in der als „epochal“ gepriesenen Wiener Bruegel-Schau ihren Fortgang nahm.

Gent ist eine Hochburg islamischer Migration

Mit den van Eycks, Pieter Bruegel dem Älteren und Peter Paul Rubens, inszeniert die seit 2014 von der liberalkonservativen Nieuw-Vlaamse Alliantie geführte flämische Regierung die „Ikonen lebendiger Tradition“, die angeblich „bis heute im Land spürbar“ sei. Gerade Gent und Brügge, wo die Eycks bis 1426 beziehungsweise 1441 wirkten, seien auch sechs Jahrhunderte später von ihnen und ihrer „faszinierenden Welt“ geprägt. Eine Atmosphäre, in die nicht nur Museumsbesucher eintauchen sollten, sondern die das ganze Jahr über als touristische Attraktion in allen anderen Kulturstätten Gents und Brügges und bis in die letzten Winkel der Gastronomie hinein zu spüren gewesen wäre, wenn Covid-19 dies nicht verhindert hätte.

Die Vergegenwärtigung der van Eycks ist also ein wichtiges Instrument flämischer Identitätspolitik. Gerade weil die behauptete „lebendige Tradition“ tatsächlich brüchig geworden ist, wie schon den Grußworten zu entnehmen ist, die mit unterzeichnet sind von Zuhal Demir, der kurdischstämmigen flämischen Ministerin für Justiz und Tourismus, und Sami Souguir, dem Beigeordneten Kultur in der Genter Kommunalverwaltung, einem Kind tunesischer Zuwanderer. Gent, das der Bürgermeister vollmundig zur „Van-Eyck-Stadt“ ausruft, ist wie Brügge längst eine Hochburg islamischer Migration, Rubens’ Antwerpen mit vierzig Prozent Migrantenanteil sogar strenggenommen keine flämische Stadt mehr.

Diese gewaltigen soziokulturellen Veränderungen schlagen sich deutlich in der Konzeption der Ausstellung und der Begleitbandes nieder. Denn als christliche Künstler, die sie im eminenten Sinne waren, treten die van Eycks hier eher in den Hintergrund. Statt dessen liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf dem zeitlosen, von religiösen Inhalten abgelösten künstlerischen Virtuosentum der „optischen Revolutionäre“, denen die „nordische Renaissance“ zu danken sei.

Deren Leistung als solche würdigt Maximiliaan Martens mit staunenswerter Akribie. Der Kunsthistoriker leitete ein internationales Team von Computerspezialisten, Ingenieuren, Konservierungswissenschaftlern und Mathematikern, das seit 2012 mit der Restaurierung des Genter Altars, eines 1432 geweihten Hauptwerks der beiden Meister, beschäftigt war. Experimentell ließ sich rekonstruieren, mit welcher Raffinesse der naturwissenschaftlich versierte Jan van Eyck, der Hauptschöpfer des Altars, die optischen Effekte, die subtilsten Farb- und Lichtabstufungen seiner Tafelmalerei erzielte, nachdem die Restauratoren das einst für die Vijd-Kapelle der Genter St.-Bavo-Kathedrale gestiftete Denkmal von Schmutz, Firnis und Übermalungen befreit hatten, so daß der für die Entstehungszeit tatsächlich revolutionäre naturalistische Stil mit seiner beinahe fotografischen Genauigkeit wieder zum Vorschein kam.

Sein Realismus galt freilich stets als Markenzeichen Jan van Eycks, des gelehrten Malers, dessen Naturtreue kein Zeitgenosse und kaum ein Künstler nach ihm übertrafen und der sich anhaltender Berühmtheit erfreute. Aber Martens’ ultimative Klärung des Wie der kraftvoll suggestiven visuellen Wirkung des Genter Altars sagt nichts aus über das Was des „schönsten Gemäldes der ganzen Christenheit“, wie es der 1933 von seinem Hamburger Lehrstuhl vertriebene Erwin Panofsky in seinem Standardwerk „Early Netherlandish Painting“ (1953, deutsch 2001) nennt. 

Religiöse Vorstellungen werden ignoriert

Wie ist es aber um einen Realismus, gar einen Naturalismus bestellt, der, wie auf der unteren Tafel, die „Anbetung des Lammes“ zeigend, auf einer grünen Wiese Scharen von Seligen, Heiligen, Pilgern, Eremiten und Märtyrern ins Bild rückt, dazu ein Lamm, dessen Blut in einen Kelch strömt, anbetende und Weihrauchfässer schwingende Engel, über denen im Astrallicht eine Taube schwebt?

In der Alltagswirklichkeit dürfte diese nach der Offenbarung des Johannes gestaltete Szenerie des Himmlischen Jerusalem van Eyck sowenig begegnet sein wie die von ihm intim ausgeleuchteten Madonnen und Heiligen im Interieur romanischer und gotischer Architektur. Deshalb sprach Panofsky – von dessen bahnbrechenden theologischen Entzifferungen des Genter Altars und anderer Werke Jan van Eycks die Beiträger des Katalogs leider nur sparsamen Gebrauch machen – von einer „transfigurierten Realität“.

Zu dieser führen van Eycks „fromme Bilder“ den Betrachter hin, worüber immerhin eine von Panofsky inspirierte Studie dieses Bandes informiert. Solche Kunstwerke halfen dem kontemplativen Christen, die sinnliche Erfassung der Dinge durch „spirituelles Sehen“ zu ersetzen. Es „scheint“, so die offenkundig mit der christlichen Religion fremdelnden Kunsthistorikerinnen Astrid Harth und Frederica Van Dam, als habe van Eyck mit dem Genter Altar „spirituelle Dinge kenntlich machen wollen“. So kann man auch ignorieren, daß das Leben der mittelalterlichen Christenheit, auch in Flandern, „in all seinen Beziehungen durchdrungen und völlig gesättigt von religiösen Vorstellungen“ war. Und es „kein Ding, keine Handlung gab, die nicht fortwährend in Beziehung zu Christus und dem Glauben gebracht werden“ (Johan Huizinga).

Von dieser mit christlicher Religion geradezu „übersättigten Atmosphäre“ ist in der nun muslimisch geprägten „Van-Eyck-Stadt“ wohl nicht mehr so viel zu spüren wie es die Stadtoberen und die Touristenwerbung gern hätten.





Jan van Eyck

Geboren wohl zwischen 1385 und 1390, gibt es über die ersten rund dreißig Lebensjahre des flämischen Ausnahmekünstlers kaum gesicherte Angaben. Urkundliche Erwähnungen finden sich erst ab etwa 1420, als er zunächst Hofmaler bei Herzog Johann von Bayern, dem Grafen von Holland, in Den Haag war und nach dessen Tod die längste Zeit in Diensten des Burgunderherzogs Philipp III. in Lille stand. Ab 1430 war er wieder in Brügge tätig. In der Kunstgeschichte gilt er als  „Vater der Ölmalerei“, der diese damals neue Form perfektionierte. Jan van Eyck starb 1441.