© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Soziale Distanz ist der falsche Weg, um gesund zu bleiben
Wehren wir uns!
Hans-Joachim Maaz

Mit dem Begriff „Social Distancing“ wird ein beziehungsfeindliches Gebot anglisiert zu beeindruckender und bedrohlicher Bedeutung erhoben. Ich schlage diese Bezeichnung zum Unwort des Jahres 2020 vor. Wenn vernünftigerweise der „körperliche Abstand“ zum Schutze vor Ansteckung gemeint ist, warum nennen wir es dann nicht so? 

Eine soziale Distanz einhalten zu sollen, ist überhaupt und zu Zeiten einer Bedrohungslage erst recht der schlechteste Rat an uns Menschen, die wir soziale Beziehungen zum Leben wie Luft, Wasser und Nahrung brauchen. Doch hier soll nicht der Fehlgriff in der Wortwahl reflektiert werden, ich will vielmehr die immense Bedeutung sozialer menschlicher Kontakte begründen. Nicht nur, daß wir von Anfang an soziale Versorgung und Fürsorge zum nackten Überleben brauchen, die Qualität der beziehungsdynamischen Frühbetreuung prägt auch unsere Persönlichkeit und unser späteres Verhalten.

In dem Buch „Das gespaltene Land“ habe ich Belege aus der psychotherapeutischen Praxis zusammengestellt, wie selbst die Fähigkeit, Demokratie, Freiheit und Liberalität (Toleranz) zu leben, abhängig ist von den verinnerlichten Sozialkontakten in den ersten drei Lebensjahren ab der Schwangerschaft. Dabei sind die wichtigsten sozialen Grundbedürfnisse: gewollt-sein, angenommen-werden, verstanden-, bestätigt- und befriedigt-werden. Wir Menschen erfahren uns im Spiegel der anderen, anfangs vor allem durch Mutter und Vater und später im sozialen Austausch mit Freunden und Feinden, Förderern und Verhinderern.

Sozialkontakte sind vielgestaltig: Blicke, Mimik, Sprache nach Inhalt und Form, Gesten, Körperhaltung, Berührung und die Fülle liebevoller, erotischer oder ablehnender bis gewalttätiger Köperkontakte. Ein solches Beziehungs-Ensemble hält uns, gibt Orientierung, schafft Anregung, gewährt Schutz, bestätigt oder verunsichert, entspannt oder streßt, befriedigt oder frustriert. Das Ich konstituiert sich nur im Du und im Wir.

Diese unverzichtbare – auch unvermeidbare – sozial begründete Lebensform, die einerseits die Individualität prägt und andererseits auch verantwortlich ist, ob ein Mensch sich als bedroht, besetzt, minderwertig und abhängig erlebt oder als berechtigt, frei, selbstbewußt und autonom erfährt. Wobei die Autonomie der Persönlichkeit immer als Eigenständigkeit in sozialer Bezogenheit verstanden werden muß.

In unendlicher Vielfalt der Persönlichkeitszüge – mit den Fähigkeiten, Behinderungen und Entfremdungen – richtet sich jeder Mensch recht und schlecht sein Leben ein. Dabei helfen demokratische Verhältnisse mit garantierter und geschützter Meinungsfreiheit und Pluralität, daß jeder Mensch eine Chance hat, seine Kompetenzen zu entfalten und seine Behinderungen zu kaschieren oder zu kultivieren.

Für die Lebensansicht, für die Bewertung, Gesinnung und Moral hat jeder praktisch seine Privat-Logik, die das soziale Leben bunt, interessant und anregend macht. Eine gesicherte Demokratie verhindert, daß spezifische Privat-Logiken sich zu einer Normopathie versammeln und dann allmählich die Meinungsfreiheit mit diffamierender Bewertung unerwünschter Positionen einengen und sich eine Meinungsdominanz – zunächst mit nachvollziehbaren Argumenten, dann aber immer autoritärer mit Verlust des Meinungsstreites durchsetzen kann.

Das kann der Fall sein, wenn eine reale oder auch nur behauptete Gefahr die Gesellschaft bedroht. Dann kann der Mainstream in die Krise führen und politische Korrektheit ist dann keine Orientierungshilfe mehr, dafür wie man sich empathisch und angemessen verhält, sondern wird zu einem Verhaltensdiktat.

Es muß bedacht werden, daß die Virus-Todesangst eine Einschüchterungs­potenz hat, die zunächst größte Folgsamkeit ermöglicht,  aber mit gleicher emotionaler Kraft  den Freiheitsdrang aufheizt.

Wir mußten solche Tendenzen in den letzten Jahren wiederholt zur Kenntnis nehmen: ungelöste Konflikte bezogen auf Klima, Finanzen, Migration, Integration, Europa und Euro bedrohen und verunsichern und stellen damit alle Privat-Logiken in Frage, mit denen man bisher in der Vielfalt gut integriert war. In der Krise beginnt die Flucht unter das schützende Dach autoritärer Führung, wobei Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit geopfert wird. Die wichtige Frage, ob die Privat-Logiken zu einer Normopathie verschmelzen oder eine kraftvolle Solidarität in der Not erzeugen, entscheidet über den Verlauf der Krise.

Bezogen auf die frühe Prägung der Persönlichkeit und das dominierende spätere Verhalten werden abhängig gebliebene Menschen sich mit großem Eifer und in Dankbarkeit einer autoritären Führung überlassen, dagegen werden früh traumatisierte Menschen sich heftig widersetzen, weil für sie Einengung erneut eine erhebliche Bedrohung bedeutet. Und narzißtisch beladene Menschen werden sich nur zähneknirschend fügen, weil sie zwar eine betonte Unabhängigkeit zur Stabilisierung brauchen, aber selbstunsicher genug sind, um sich nicht offen und kreativ kritisch einzubringen, dann aber um so heftiger alle Abweichler von den Regeln, die etwas wagen, was sie sich versagen, mit gehässiger „Lust“ denunzieren.

Die Bedrohung durch eine Virus-Pandemie bedeutet eine große Herausforderung zur autoritären Führung und notwendigem Gehorchen. Dabei ist die größte Schwierigkeit die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Menschen erleben echte Angst vor Ansteckung, Erkrankung und Tod und aktivieren bei Beunruhigung alle bisher durch Privat-Logik und freiheitliche Vielfalt gebundenen Lebensängste zur irrationalen Panik. Die Energie ungelöster individueller Lebenskonflikte und sozialer Belastungen wird im allgemeinen Bedrohungsstreß aktiviert und kulminiert in krankheitswertigen Symptomen und im sozialen Ausagieren durch Vorwürfe, Verdächtigungen, Feindseligkeiten, Denunziation und Gewalt. Die Einsicht in das Notwendige, die geforderte Isolierung, die Anregung zu Hilfeleistungen und die Kreativität, der besonderen Belastung etwas Positives abzugewinnen, sind der psychosoziale Humus, um das Bedrohungserleben zu regulieren und damit zurückzudrängen. 

Je länger aber eine soziale Isolierung erforderlich ist, desto größer wird die Gefahr individueller Erkrankung, familiärer Konflikte und sozialer Gewalt. Dabei macht es einen erheblichen Unterschied, ob gebotene Regeln als richtig und vernünftig aus eigener Überzeugung befolgt oder als aufgezwungen erlebt werden. Verunsicherung und Unmut bei überzogenen Maßnahmen richten einen schon vorhandenen Gefühlsstau aus ganz individuellen Lebensgründen, der bisher gut kontrolliert war, auf eine aktuelle Krise, wobei die Affekte zu einem Pulverfaß werden können, dessen Explosion – nach innen oder nach außen – droht, wenn Rationalität und Verhältnismäßigkeit nicht mehr überzeugend vermittelt werden können.

Dabei muß bedacht werden, daß die Virus-Todesangst eine Einschüchterungspotenz hat, die zunächst größte Folgsamkeit ermöglicht, aber mit gleicher emotionaler Kraft den Freiheitsdrang aufheizt und im Falle von Falschinformationen einen Proteststurm befeuern könnte, der nach Entlastung vor allem bei sozialer Beschädigung und ökonomischen Verlusten strebt. Nicht zu vergessen ist eine individuelle Scham, wenn man ungerechten oder falschen Maßnahmen kritiklos gefolgt war.

Das affektive Gebräu in der Virus-Epidemie ist eine Mischung aus realer Angst und einer auf das Virus projizierten Irrationalität. Die sozialen Einschränkungen nehmen den Menschen die Befriedigung von Grundbedürfnissen an Sozialkontakten. Das können die meisten bei Einsicht in die Notwendigkeit sicher einige Wochen durchhalten. Dabei werden aber sehr viele Menschen ihrer sozialen Kompensationsmöglichkeiten beraubt, was noch schwerer wiegt. Dazu zählt alles, was durch Arbeit, Kultur, Sport und Freizeit auch als Ersatz, zur Ablenkung und Betäubung ständig gebraucht wird, um Minderwertigkeit, Bedürftigkeit, Sehnsucht zu dämpfen und sich durch Leistung zu beweisen und durch Amüsement zu beruhigen. Soziale Distanz befördert mit zunehmender Dauer psychisch-psychosomatische Erkrankungen, verschlimmert körperliche Erkrankungen, provoziert familiäre und nachbarschaftliche Konflikte, schafft einen Gefühlsstau mit Gewaltpotential. Die großartige Hilfestellung, zu der viele Menschen in der Not fähig sind, droht bei fortdauernd ungelösten Konflikten verlorenzugehen. Um den Shutdown der Empathie zu verhindern und die Geduld bei sozialer Isolierung zu stärken, ist Vertrauen in angeordnete Maßnahmen am wichtigsten.

Die Auseinander­setzung, ob die Gefahr einer Erkrankung einschließlich der Todesdrohung eher akzeptiert wird als  der wirtschaftliche Kollaps, der Freiheitsverlust, autoritäre Verhältnisse und Kontaktverbote hat begonnen.

Das gelingt nur, wenn alle politischen Entscheidungen nicht mit falscher Gewißheit, sondern mit allen Zweifeln und schwierigen Abwägungen diskutiert werden. Und zu allen wissenschaftlichen Begründungen müssen auch alle Kritiken und wissenschaftliche Gegenargumente zugelassen und veröffentlicht werden. Nur bei akuter Panik muß der Informationsfluß ausgeschlossen werden, um ein Chaos zu verhindern.

Die Auseinandersetzung, ob die Gefahr einer Erkrankung einschließlich der Todesdrohung eher akzeptiert wird als der wirtschaftliche Kollaps, der Freiheitsverlust, autoritäre Verhältnisse und Kontaktverbote hat begonnen. Wir beginnen zu fragen, weshalb die Sterberaten von Erkrankungen, durch Krankenhauskeime, Verkehrs-, Arbeits- und Haushaltsunfälle, durch Umweltschäden und ungesunde Lebensweisen noch nie solche Panik und solche einschränkenden Maßnahmen bedingt haben.

Mit der hypnotisierenden Beschwörungsformel: „Es geht um Leben und Tod!“ machen wir uns gegenwärtig zu Opfern einer Massenpanik. Als „moderne“ Menschen wollen wir nicht mehr akzeptieren, daß mit zunehmendem Alter unser immunologischer Körperschutz schwächer wird und dem Tod eine Pforte öffnet. Wir haben schon lange verdrängt, daß wir im Alter millionenfach an schweren Erkrankungen, die wir als „Zivilisationserkrankungen“ veredeln, zu Tode kommen. 

Im Moment opfern wir aber auch unsere seelischen Abwehrkräfte und verfallen in einen Bedrohungswahn. Wir brauchen Antworten, was die weltweite Panik begründen könnte. Ich komme dabei vollkommen ohne Verschwörungstheorie aus, obwohl deren Inhalte durchaus Symptome weltweiter Krisen sein können. Psychologisch finde ich schnell eine Erklärung: Es gibt eine unsichtbare und damit besonders beängstigende Bedrohung, die dafür zuständigen Virologen und Epidemiologen tun ihre Pflicht, die sachbezogen unwissenden Politiker müssen handeln.

Die Medien stürzen sich sensationslüstern mit einseitigen bis regelrechten Falschmeldungen auf die Beunruhigungs-Inhalte, und die massenpsychologischen Mechanismen generieren dann wie von selbst die Massenpanik. Unsere verstörte Zivilisation ermöglicht eine ungewollte, aber zeitgeist-typische Verschmelzung zwischen Experten, Politikern, Medien und Bevölkerung, die vor allem mit Negativ-Nachrichten ungebremst wirken kann. So liegt für mich die Deutung nahe, daß wir an einer psychosozialen Massenseuche leiden, die im Sinne eines narzißtisch-falschen Lebens eine kritische Grenze erreicht hat und in eine schwerwiegende Panikstörung mündet.

Hören wir auf, nur ein Virus übertrieben bekämpfen zu wollen, es hat jetzt vor allem den Status eines Symptomträgers bekommen. Wehren wir uns entschieden, daß mit geschürter Panik das Wirtschafts- und Kulturleben zerstört wird und die Politik mit Notstandsgesetzen die Demokratie aushebelt. Werfen wir die Blicke auch auf unsere Lebensform, auf die Gründe, die die körperliche und seelische Immunität schwächen. Therapieren wir unsere Panik mit der schmerzlichen Einsicht in unser entfremdetes Leben, in unsere vielfachen psychosozialen Traumatisierungen und mit der Aussicht auf anzustrebende gesündere Lebensformen. 

Es wird in dieser aufgeheizten und verwirrenden Situation keine nur richtige und gute Lösung geben. Schlimme Bilder werden nicht zu vermeiden sein, egal auf welcher Gesellschafts- oder Lebensbühne. Die Panik schafft ein Syndrom der Schockstarre. Die Hauptanstrengungen sollten daher der Panikbekämpfung gelten.

Dafür empfehle ich einen Krisenstab, zu dem nicht nur die Virologen zählen, sondern auch Wirtschaftsführer, Ökonomen, Kommuniktationsexperten, Ethiker, Ärzte und Psychotherapeuten mit unbedingter Einbeziehung kritischer Bedenken gegen die bisherigen Maßnahmen, wie es unter demokratischen Verhältnissen angemessen ist.






Dr. Hans-Joa­chim Maaz, Jahrgang 1943, ist Psychiater und Psychoanalytiker und bekannt durch Auftritte in den Medien und seinen Bestseller „Der Gefühlsstau“ (1990). Er gilt als „Kenner der deutschen Befindlichkeit“ (ZDF), und mit „Die narzißtische Gesellschaft“ (2012) ist ihm ein „Psychogramm der Bundesrepublik“ (Spiegel) gelungen. 

Foto: Eine Frau sitzt auf einem heimeligen Sofa mit Schutzkleidung, Lebensmittelvorräten und Toilettenpapier: Sind wir bereit für den Weltuntergang? Und wenn ja, wie lange?