© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Geschüttelt und nicht gerührt
Ein New Yorker unter Englishmen: Tuvia Tenenbom präsentiert sein Gesellschaftsmosaik von der Insel
Filip Gaspar

Wäre es nicht schön, in Zeiten der Corona-Quarantäne dem ganzen Spuk einfach zu entfliehen und in ein anderes Land reisen zu können, zum Beispiel in das Vereinigte Königreich? Die Lektüre des neuen Buches „Allein unter Briten“ des israelisch-amerikanischen Autors Tuvia Tenenbom ermöglicht genau dies. Es ist sein fünftes Werk, aus der im Deutschen betitelten „Alleine unter“-Reihe. Nach Deutschen, Juden, Amerikanern und Flüchtlingen sind dieses Mal die Briten dran. 

Für Tenenbom, Dramatiker und Gründer des Jewish Theater of New York, war es nur eine Frage der Zeit, bis er ins Heimatland von Shakespeare aufbrechen würde. Dort befaßte man sich vor dem Corona-Ausbruch mit noch so „banalen“ Dingen wie dem Brexit-Referendum und seinen unabsehbaren Folgen. Also mit eben jenem 2016 abgehaltenen Referendum, bei dem jene ungebildeten und nationalistischen 52 Prozent der wahlberechtigten Briten, meist am fortgeschrittenen Alter und der weißen Hautfarbe zu erkennen, dafür stimmten, daß Großbritannien die Europäische Union verläßt. Diese demokratische Entscheidung hinzunehmen fällt vielen deutschen Kommentatoren bis heute schwer.

Doch wer denkt, der Brexit sei das tonangebende Thema dieses Buches, der wird eines Besseren belehrt, denn wie Tenenbom gleich zu Beginn klarstellt, empfanden die meisten Briten überhaupt keine Lust, über dieses Ereignis zu reden. Dennoch spielt der Brexit auf vielen Seiten eine große Rolle und dient als Gesprächseröffnung.

Über sechs Monate weilte Tenenbom in Großbritannien und deckt, angefangen bei einer abgehängten Waliser Kleinstadt bis zur Millionenmetropole London, alle Facetten an Orten ab. Er begegnet Politikern, Uber-Fahrern, Lords, Studenten, Rentnern, Einwanderern und Leuten, die ihm auf der Straße, in Taxis, Pubs, gut bewachten, aber leeren Synagogen und unbewachten, dafür vollen Moscheen meist zufällig über den Weg liefen.

Wer seine vorherigen Bücher gelesen hat, wird die bewährte Vorgehensweise wiedererkennen, die diese auszeichnet und zu Bestsellern avancieren ließ. Tenenbom legt einen lockeren, teils jovial-naiven Schreibstil an den Tag und schafft es dadurch, die absurdesten Aussagen aus seinen Gesprächspartnern zu kitzeln. So nennen viele die Aussagen des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn antisemitisch und bestätigen, daß er zu einem Anstieg des Antisemitismus innerhalb der Partei beigetragen habe. Dieselben Leute weigern sich dann vehement, Jeremy Corbyn öffentlich einen Antisemiten zu nennen. 

Um einen offiziellen Termin beim Labour-Chef zu bekommen, wendet Tenenbom seinen aus vorherigen Büchern bekannten Trick an und nimmt die gerade passende Identität an. Er weist sich als Deutscher aus, begeht jedoch den Fehler, die E-Mailadresse des Jewish Theater zu verwenden und entlarvt sich somit selbst als Nicht-Goi. Letztendlich kommt es doch noch zu einem Treffen mit Corbyn mit amüsantem Ausgang. Als er Nigel Farage in dessen spartanisch eingerichtetem Büro besucht – „mit Nigel Farages Büro ließe sich, flapsig gesagt, kein Blumentopf gewinnen“ –, erzählt dieser ihm gut gelaunt Anekdoten über den EU-Chef Jean-Claude Juncker und weshalb Farage sich vehement für den Brexit eingesetzt habe.

Wirtschaftskrise läßt ganze Gemeinden verarmen

Das Buch lebt davon, daß Tenenbom keinem festen Plan, sondern seiner Intuition folgt. Dies ermöglicht so ungewöhnliche Gespräche wie mit einem Millionär und einem Gangster, die Tenenbom unverblümt ihre Lebensgeschichte erzählen, eben weil der Autor sie auch erzählen läßt. Tenenbom drückt es folgendermaßen aus: „Brexit hin oder her, alle lieben einen dicken Deutschen mit roter Brille und lustigem Akzent.“

Antisemitismus, speziell der als Israelkritik verkleidete, der sich durch alle Schichten zieht, war bereits in den vorherigen Büchern ein wichtiges Thema. Tenenbom überrascht es nicht, in Großbritannien ähnliche Umstände vorzufinden, aber mit welchem Ausmaß an Antisemitismus, das verwundert ihn schon. So überrumpelt er eine Gruppe Studenten, die sich solidarisch mit Palästina zeigen, indem er Haßtiraden über Juden von sich läßt, welchen diese halbherzig zustimmen. Oder als es ein 14jähriger Junge belustigend empfindet, den Hitlergruß zu machen. Überhaupt sind die wenigen Juden bereit, offen mit ihm über den alltäglich erlebten Antisemitismus zu sprechen und ihre Furcht zuzugeben.

Die Armut ist ein weiteres zentrales Thema auf der Reise. Durch Fabrikschließungen verarmen ganze Gemeinden und die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. In der Hauptstadt London müssen Banker und Obdachlose auf engstem Raum zusammenleben. Vollzeitarbeiter, die gezwungen sind, ihren Lohn mit einem Zweitjob aufzustocken. Farbige Taxifahrer, die wohlbetuchte Klientel zu einem Musical über die Pop-Ikone Michael Jackson kutschieren, dessen Besuch sie sich selbst nicht leisten können. Arbeitslos gewordene Pubbesucher, die die polnischen Gastarbeiter für die eigene Misere verantwortlich machen.

Die über 500 Seiten Roadtrip bieten nicht nur eingefleischten Tenenbom-Fans eine Menge an interessantem Lesestoff und ein Lesevergnügen über die jüngsten Geschehnisse in Großbritannien.

Tuvia Tenenbom: Allein unter Briten – eine Entdeckungsreise. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, broschiert, 502 Seiten, 16,95 Euro