© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Diplomatische Demenz
Paul Rosen

Beziehungen zwischen Staaten entwickeln sich im Laufe von Jahrzehnten, wenn nicht sogar von Generationen. Botschaften spielen dabei eine wichtige Rolle, für jede Regierung ist ihr Diplomatenkorps von höchster Bedeutung für Lageeinschätzungen und Handlungsoptionen. 

Doch was ist, wenn ein Staat sein Gedächtnis verliert, sozusagen von einer politischen Amnesie befallen wird? So etwas gibt es tatsächlich, aber die Rede ist hier nicht von einem „Failed State“ wie Somalia, sondern von der Bundesrepublik Deutschland, deren Außenministerium von der internen Inspektion wie vom Bundesrechnungshof ein „institutioneller Gedächtnisverlust“ bescheinigt wird. Das Problem besteht nicht nur in der Zentrale am Werderschen Markt in Berlin, sondern auch an „mehreren außenpolitisch besonders bedeutsamen Auslandsvertretungen“. Besonders bedeutsam sind die Botschaften in den USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich, bei der EU und bei der Nato.

Nachzulesen ist dies alles in einem Bericht des Bundesrechnungshofes an den Deutschen Bundestag, veröffentlicht unter der Drucksachen-Nummer 19/18300. Zur Kenntnis genommen wurde der Bericht bisher nicht. Daß brisante Papiere nicht wahrgenommen werden, ist leider kein Einzelfall, wie der Fall eines offiziellen Regierungspapiers über Szenarien nach einer Corona-Pandemie zeigt, das dem Parlament seit Januar 2013 vorlag (Drucksache 17/12051) und ignoriert wurde.

Aber zurück zum Auswärtigen Amt: Schon vor 20 Jahren wurden erstmals Probleme bei Aktenführung und Dokumentation festgestellt. Der Rechnungshof prüfte und prüfte – insgesamt 50mal. Das Ergebnis war immer gleich: „Entscheidungserhebliche Unterlagen“ fehlten, Akten waren falsch abgelegt oder erst gar nicht auffindbar: „Akten aus 42 Ablagekartons, die an das politische Archiv abgegeben werden sollten,  waren vernichtet worden. Dies fiel im Auswärtigen Amt nicht auf.“ Wichtige Bereiche der auswärtigen Politik drohten „undokumentiert“ zu verschwinden.

Bei den deutschen Diplomaten führt das Aktenchaos auch aus einem anderen Grund zum „institutionellen Gedächtnisverlust“: Im Auswärtigen Amt gibt es das „Generalisten- und Rotationsprinzip“. Das heißt: Jeder Mitarbeiter muß in jedem Fachbereich an jedem Platz der Welt einsetzbar sein. Alle drei bis vier Jahre wird gewechselt. Innerhalb eines Jahrzehnts in Berlin, den USA, Uruguay, Pakistan und Neuseeland gewesen zu sein und dort jeweils andere Aufgaben bekommen zu haben, das ist kein Einzel-, sondern der Regelfall. Und dann auf einem neuen Posten keine Unterlagen vorzufinden führt nach Feststellung des Rechnungshofes zu „Wissensverlust und intransparentem Handeln“. Die Leistungsfähigkeit des Amtes sei erheblich gehemmt.

Außenminister wie Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Heiko Maas (alle SPD) interessierten sich für diese Probleme nicht. Der Rechnungshof stellte fest, in der Führungsebene des Amtes gebe es seit langem eine „dominierende Laissez-faire-Haltung“.