© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Titanenkampf am Perlenhafen
Geopolitik: Wie die globale Corona-Pandemie das Kräfteverhältnis im Pazifik verschiebt
Jörg Sobolewski

Pele, so lautet der Name der polynesischen Göttin, die mit ihren vulkanischen Kräften Schöpferin und Zerstörerin der Welt ist. Immer im Kampf mit ihrem sanftmütigen Zwilling Namaka, schaffen die beiden zerstrittenen Schwestern die Inselwelt des Pazifik. Hier, am Pazifischen Feuerring, sind die Kräfte, die den Planeten schufen, nie erloschen. 

Kein Wunder also, daß auch die heutigen Einwohner der hawaiianischen Inseln mit der vulkanischen Aktivität umzugehen gelernt haben. Doch längst ist es nicht nur das unterirdische Feuer, daß die Einwohner der Inselgruppe fürchten: Seit dem Angriff auf Pearl Harbor, der als Schmachtfetzen US-amerikanische Kriegspropaganda noch in jedes Kino getragen hat, fürchten die Hawaiianer einen Angriff aus den Tiefen des asiatischen Raumes. 

Das US-System wirkt angeschlagen 

War es früher das dynamische und aggressive Japan, ist es heute das an Menschen und Machtmitteln reiche China, das besonders dem United States Indo-Pacific Command, dem Oberkommando des US-Militärs in der Region, nachts den Schlaf raubt. 

Das war bereits vor dem Ausbruch des Coronavirus der Fall. Seitdem die Volksrepublik China jedoch mit drastischer Härte den Verlauf der Epidemie zumindest offiziell im Gegensatz zu den USA unter Kontrolle bekommen hat, fürchtet so mancher im und um den Pazifik herum eine grundlegende Verschiebung des Kräftegleichgewichts in der Region. 

Wobei „Region“ in diesem Fall weit zu fassen ist. Wie Sterne am Nachthimmel liegen kleine Inseln in einer gigantischen Wasserwüste verstreut. Nur an ihren Rändern ist diese Weltgegend dicht besiedelt. Dort aber dann äußerst kontrastreich. Von den angelsächsischen Erben des britischen Weltreichs, Australien und Neuseeland, im Süden über die rätselhaften Inselstaaten Papua-Neuguinea und Indonesien und das südchinesische Meer bis hinauf nach China, Japan und den Koreas ziehen sich die Fokuslinien in diesem Teil der Welt, der weiter weg von Europa ist als jeder andere Ort. 

Lange spielte Weltpolitik in Zentralasien und dem Atlantikraum. In den letzten Jahren aber rückte der Pazifik in den Mittelpunkt des Geschehens. Nach der Wahl des US-Präsidenten Trump verkündete sein Berater, Steve Bannon, knapp das neue Mantra der amerikanischen Außenpolitik: „China, China, China.“

So ganz konnte man in Washington nicht von den alten Gewohnheiten lassen und so verschlangen auch weiterhin die Schauplätze in Europa und dem Nahen Osten die knapper werdenden Mittel der Weltmacht. Doch nun, im fahlen Licht einer globalen Epidemie, drängt sich unbarmherzig das pazifische Theater in die Augen der Weltöffentlichkeit. Aufgeschreckt von der Schnelligkeit, mit der China seinen eigenen Virus wieder aus dem Land verbannte und tief erschüttert von der Anfälligkeit, die das US-System für die Folgen der Epidemie verwundbar machte, diskutiert man nun auch verstärkt offen die möglichen Verschiebungen post-Corona. 

Ganz vorne mit diskutieren vor allem die traditionellen Verbündeten der USA. Besonders in Australien hat man schon lange ein verstärktes Engagement der „guten Freunde“ angemahnt. Gab man sich in Canberra lange damit zufrieden, unter den pazifischen Inselstaaten der Platzhirsch zu sein, mußte man in den Jahren nach 2014 sukzessive feststellen, auf einmal nur noch reagieren, nicht mehr agieren zu können. Nicht zuletzt durch die Seidenstraßeninitiative Rotchinas weht vor vielen Infrastrukturprojekten in der australischen Umgebung nicht mehr eine blaue, sondern eine rote Fahne. 

Daß man es in der Vergangenheit versäumt hatte, diesem globalen Strategieplan der Chinesen einen genuin „westlichen“ Plan entgegenzusetzen, rächt sich nun doppelt. China, offiziell virus- und handlungsfrei, arbeitet nach Aussagen von Beobachtern etwa aus Singapur oder Indien massiv daran, in der anstehenden Chaoszeit Pflöcke in seiner Nachbarschaft einzurammen, die keiner wieder entfernen können wird. 

Auch in der Krise spielt Peking mit den Muskeln

Während die USA weder ökonomisch noch personell in der Lage sind, den ebenfalls betroffenen historischen Verbündeten zu helfen, schreitet China zur Tat und entsendet Ärzte und Masken. Ein Lehrstück an politischer Symbolpolitik. Schwerwiegender wirkt aber beispielsweise die Etablierung eines Gesprächsforums, das als „17 + 1“ bezeichnet wird. Ein loses, aber weltumspannendes Gremium, in dem China mit siebzehn anderen Gesprächspartnern, vornehmlich aus Europa, über gemeinsame Ansätze in der internationalen Wirtschaftspolitik debattiert. Während in der letzten Ebola-Krise 2014/2015 die USA eine globale Koalition zur medizinischen Bekämpfung des Erregers schmiedeten, versucht sich China mit gewohnt hemdsärmeliger Diplomatie daran, Peking zum Zentrum der globalen Pandemiebekämpfung zu machen. 

Das eigentliche südostasiatische Gegengewicht zu China, die ASEAN- Staaten, hingegen bleiben in der Krise auffällig stumm. Auch die Absage des US-ASEAN-Gipfels in Las Vegas im Zuge der Pandemie wird aufmerksam registriert. Prashanth Parameswaran vom Branchenblatt The Diplomat spricht bereits von einer „unverteidigten Front“, die sich gegenüber China besonders im „Südchinesischen Meer“ auftue. Dem „traditionellen Hotspot der lokalen Geopolitik“. Unverteidigt von den US-amerikanischen Verbündeten versteht sich. 

Die Volksrepublik hingegen hat auch mitten in der Krise tatkräftig in der Region Flagge gezeigt. Unter anderem mit dem kambodschanisch-chinesischen Märzmanöver. In einer Zeit, in der die Nato ihre Frühlingsmanöver virusbedingt unterbrechen mußte, ist das ein aufmerksam registriertes Zeichen. 

Im Kleinstaat Singapur ist man auch hier seinen Nachbarn einen Schritt voraus. Die lokale Straits Times berichtete gut informiert über einen „Brandbrief US-amerikanischer Militärs“, der für die Zeit „nach Corona“ eine massive Aufrüstung in der Region fordert. Ein Zusatzvolumen von 29 Milliarden US-Dollar soll in Marschflugkörper und Frühwarnsysteme in US-Stützpunkten im Pazifik fließen und damit den Technologiesprung der Chinesen in den vergangenen Jahren relativieren. 

In Hawaii nehmen diese Entwicklung selbst altgediente Militärs mit Stirnrunzeln zur Kenntnis. Barbara Lee, eine Oberstabsärztin der Marine, ist besorgt. „Ich hoffe, daß diese Pandemie in der Region als Weckruf, gerade bei unseren Verbündeten, gesehen wird. Als Anlaß, die eigenen ökonomischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China zu überdenken.“