© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Athen schlägt Alarm – doch die EU-Staaten zögern
Griechenland: Das Land versucht die mißliche Lage in den Inselcamps zu beheben / Österreich und Deutschland sichern Hilfe zu
Marc Zoellner

Diesmal traf es nur eine Eingangstür: Doch der Schock saß trotz alledem tief bei den Bürgern der griechischen Insel Lesbos im äußersten Osten der Ägäis, an der Seegrenze zur Türkei. Denn bereits zum zweiten Male binnen weniger Wochen hatten Unbekannte sich an einem christlich-orthodoxen Gebäude ihrer Gemeinde vergriffen, als sie die Pforte der St.-Raphael-Kirche aufbrachen und versuchten, ins Innere des Gotteshauses zu gelangen. Einzig die schweren Flügel der Tür verhinderten einen größeren Schaden, wie ihn die Kirche von St. Georg Anfang März erst erleben mußte – mit komplett verwüstetenm Inventar sowie zerstörten und teilweise verbrannten Heiligenikonen. Für viele der rund 85.000 strenggläubigen Einwohner der Insel standen die Schuldigen rasch fest: jugendliche Banden aus dem nahegelegenen Flüchtlingslager Moria, die auf Rache aus waren, da der griechische Staat ihre Asylanträge nicht schnell genug bearbeitet.

Ursprünglich für rund 3.000 Menschen angedacht, drängen sich mittlerweile weit über 20.000 Flüchtlinge auf dem Areal. Beinahe die Hälfte der Menschen ist unter achtzehn Jahre alt. Es mangelt an Abstand, an Hygiene und sanitären Einrichtungen. Auf 167 Menschen kommt eine Toilette; je einen der wenigen installierten Wasserhähne müssen sich bis zu 1.300 Bewohner des Camps teilen. Bei seiner Errichtung im November 2015 ursprünglich lediglich als Auffanglager für rasche Abschiebungen illegaler Einreisender konzipiert, hat sich Moria mittlerweile zum überfülltesten Flüchtlingscamp ganz Europas aufgebläht. Und noch immer reißt der Strom von Neuankömmlingen aus der Türkei nicht ab. Die neue Angst vor Corona treibt viele gerade junge Bewohner des Lagers zu Wut und Haß untereinander, auf die Behörden sowie auf die griechischen Einwohner der Insel Lesbos, die nun um ihre Sicherheit fürchten.

„Wie Tiere in notdürftigen und unzulänglichen Unterkünften zusammengepfercht, stellen diese Menschen eine tickende Bombe für die Gesundheit dar“, warnte ein Polizeisprecher der Insel bereits Mitte März. Denn der Virus mache keinen Halt vor Stacheldraht, und für eine medizinische Grundversorgung mangele es in Moria sowohl an Geld als auch an Personal. 

Unweit der Hauptstadt Athen mußten in der vergangenen Woche bereits zwei andere Flüchtlingslager für vierzehn Tage unter Quarantäne gestellt werden, nachdem mehrere Dutzend Bewohner positiv auf das Coronavirus getestet worden waren. Ein Corona-Verdacht im viel größeren, komplett überfüllten Moria käme einer humanitären Katastrophe gleich. „Wir müssen jetzt so viele Menschen wie möglich aus den Camps auf das Festland bringen, um sie vom Covid-19 zu isolieren“, mahnte der UNHCR-Sprecher für Griechenland, Boris Cheshirkov.

Bereits am 8. März hatte ein halbes Dutzend EU-Staaten, darunter Deutschland und Österreich, der griechischen Regierung umfangreiche Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Moria-Krise zugesichert. Etwa 1.600 Kinder und schwer Erkrankte sollten aus dem Camp auf diese Staaten verteilt werden; freiwillig in ihre Heimat Zurückreisenden wurden Unterstützungsgelder von 2.000 Euro pro Person versprochen. 

Der weltweite Corona-Ausbruch brachte diese Initiative jedoch zum Erliegen. Am 15. April schließlich ließ Luxemburg die ersten zwölf Kinder aus Griechenland ausfliegen. Weitere fünfzig Minderjährige sollen in Deutschland eintreffen.

Für Griechenland, dessen Regierung wiederholt um die Solidarität der anderen EU-Staaten bat, sind diese Zahlen jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn Athen erwartet mit dem Ende des weltweiten Lockdowns die nächste Flüchtlingswelle aus der Türkei.