© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Nach dem Krieg um sechs
Prognose: Was sich nach dem Ende der Corona-Krise nicht geändert haben wird
Martin van Creveld

Derzeit können wir ein altes und zugleich neues Spiel beobachten, das von Millionen Menschen von Norwegen bis Neuseeland gespielt wird. Es heißt: Mutmaße wild drauf los. Es wird auf Papier, im Äther und auf jeder Art von Bildschirm gespielt. Sein Ziel? Vorauszusagen, wie die Welt aussehen wird, wenn die Corona-Krise vorbei ist  – und vorbei, ja sogar vergessen wird sie eines Tages sein. Um sechs nach dem Krieg, wie der brave Soldat Schwejk es vor langer Zeit formuliert hat.

Dabei wirken fast alle Vorhersagen schwach belegt, oberflächlich und voreingenommen – sehr oft, ohne daß sich die Autoren dessen bewußt sind. Deshalb ist es wahrscheinlich genauso nützlich und gewiß viel einfacher, einige der Dinge festzuhalten, die sich, wenn ich mich nicht schwer täusche, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ändern werden. Nicht kurz- oder mittelfristig. Und auch nicht auf lange Sicht.





Religion 

Für diejenigen, die glauben, daß Gott existiert, werden seine Wege immer so geheimnisvoll bleiben, wie sie es schon immer waren seit Gott aus dem Sturm zu Hiob gesprochen hat. Für diejenigen, die nicht gläubig sind, wird die wichtigste aller Fragen – ob die Welt schon immer existiert hat, wer oder was für unser Dasein auf Erden verantwortlich ist, wo wir hingehen und welche Bedeutung dahintersteht – weiterhin offenbleiben.





Geschichte

Was auch immer gestern passiert ist, wird für die Menschen immer das Wichtigste bleiben – nicht notwendigerweise, weil es das auch ist, sondern weil so der menschliche Verstand funktioniert.

Ebenso wird, ungeachtet all der vagen Reden über die Pandemie, die Zahl derer, die am Coronavirus sterben, kaum eine Delle in der Statistik der Weltbevölkerung ausmachen; das Leben scheint auf jeden Fall stärker zu sein als der Tod. Deswegen wird auch die Geschichte genausowenig zu einem Ende kommen, wie sie das 1992 tat, als der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sein berühmtes Buch mit dem entsprechenden Titel veröffentlichte. Statt dessen wird sie weitergehen wie bisher und zwar so, wie es Hegel verstanden hat: durch These, Antithese, Synthese und so weiter.





Politik, internationale Beziehungen und Krieg

Als ob sie beweisen wollte, daß sich nichts verändert, wird die Welt auch weiterhin auf dieselbe Weise funktionieren, wie dies schon Thukydides, Kautilya, Machiavelli und Thomas Hobbes erkannt haben. Rivalitäten zwischen Regierungen und Staaten, vor allem jene zwischen den USA und China, aber auch zwischen verschiedenen regionalen Akteuren, werden weitergehen und nicht an Intensität verlieren.

Es wird immer noch Kriege geben, die meisten davon, aber wahrscheinlich nicht alle, Bürgerkriege in dem euphemistisch „Entwicklungsländer“ genannten Teil der Welt. Einige dieser Kriege werden sehr blutig sein; allerdings nicht annähernd blutig genug, um die „Zivilisation, wie wir sie kennen, zu zerstören“, wie es die Menschen in der Ära des Kalten Krieges zu sagen pflegten.





Soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten

Massen von Flüchtlingen – sowohl tatsächliche als auch vermeintliche – werden weiterhin alles unternehmen, auf der Suche nach einem besseren Leben nationale Grenzen zu überwinden. Und einer großen Zahl von ihnen wird dies auch gelingen, was zu allerhand kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Verwerfungen führen wird.

Entgegen der Annahme einiger, die eine größere Gleichheit zwischen den Menschen prognostizieren, wird der Kontrast zwischen dem, was Plato „Plutos“ (Wohlstand) und „Penia“ (Mangel) genannt hat, omnipräsent sein wie immer. Hier und dort werden daraus Aufstände und Bürgerkriege hervorgehen, die zum Ziel haben werden, diesen Spalt kleiner zu machen. Dennoch wird keiner dieser Versuche länger als ein paar Jahrzehnte Bestand haben, und die meisten davon werden nur zu noch größerer Not fast aller Beteiligten führen.

Ganz egal, ob die Welt kapitalistisch bleibt oder sich dem Sozialismus zuwendet, werden die großen Fische weiterhin jede Möglichkeit ergreifen, die kleinen zu verschlingen. Regierungen – die größten Fische von allen – werden immer noch große Defizite anhäufen und sich überlegen, wie sie ihre Bürger dafür bezahlen lassen können.





Überwachung 

Viele glauben derzeit, daß die gegenwärtige Krise den Trend zu mehr staatlicher Überwachung und Einmischung in unser Leben beschleunigen wird. Das ist wahrscheinlich zutreffend. Allerdings wird dieser Trend auch die Entwicklung entsprechender Gegenmaßnahmen vorantreiben. Am Ende wird die Überwachung vermutlich weder mehr noch weniger engmaschig sein als zu der Zeit, als ­Joseph Fouché, Napoleons Polizeichef, sich damit gebrüstet hat, daß wenn sich drei Leute in Paris treffen, einer von ihnen ein Spitzel der Regierung ist.

 



Entwicklung der Menschheit

Wenn Corona wieder verschwunden sein wird, werden wir auch ungeachtet neuer Fortschritte in der Computer- und der Hirnwissenschaft weiterhin nicht den blassesten Schimmer haben, wie tote Materie Geist hervorbringen kann. Währenddessen werden alle erdenklichen menschlichen Eigenschaften von Zuneigung bis Eifer weiter unser Leben prägen, wie sie es schon seit jeher getan haben. Dabei wird unser Verständnis von uns selbst genauso begrenzt bleiben wie immer.

Die Post-Corona-Welt wird weder ein fröhlicherer noch ein traurigerer Ort sein als der, den wir schon immer bewohnt haben. Die mit Geburt, Ehe, Tod und (sowohl physischer als auch psychischer) Gesundheit verbundenen Probleme werden fortdauern. Die Menschen werden auch weiterhin im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen. Sie werden weiterhin ihre Freizeit, Sport, Festlichkeiten, Musik, Literatur und Kunst genießen.

Klimaschützer, Veganer und viele andere Spaßverderber werden auch weiterhin anderen Menschen ein schlechtes Gewissen machen wegen dem, was sie essen oder einkaufen, dafür, daß sie verreisen oder Kinder kriegen oder kurz: dafür, daß sie überhaupt existieren.

 




Gender

Frauen werden auch weiterhin, anders als Männer, Kinder zur Welt bringen. Zum Teil aus diesem Grund, zum Teil auch, weil sie körperlich stärker sind, werden Männer weiterhin vor allem Beschützer und Ernährer (Qawwamun, wie es der Koran ausdrückt) von Frauen sein und nicht andersherum. 

Ungeachtet dieser Privilegien werden Feministinnen, die für sich in Anspruch nehmen, die Hälfte der Bevölkerung zu vertreten, sich weiterhin ständig über die andere Hälfte beklagen.





Die Zukunft

Mit oder ohne die Hilfe von Gurus aller Art wird unsere Fähigkeit, unser Schicksal zu verstehen oder gar zu kontrollieren, genauso kläglich bleiben wie zu der Zeit, als der erste Mensch nach oben in den Himmel schaute und darüber sinnierte, wer das alles erschaffen hat, warum und zu welchem Zweck.