© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Auf festem Grund Wirbel bilden
Die eigene Vergangenheit im Nacken: Der Leipziger Maler Neo Rauch kann am 18. April seinen 60. Geburtstag feiern
Paul Leonhard

Meine Nächte möchte ich niemandem wünschen“, hat der Maler Neo Rauch wiederholt seinen Seelenzustand beschrieben: „Ich werde malträtiert durch Bilder, die zu mir kommen möchten und es nicht schaffen.“ Um diese Dämonen einzufangen, stehe er am nächsten Morgen vor der großen schneeweißen Fläche der Leinwand, dem Austragsungsort aller Aktivitäten, aller Verheißungen, Ängste und Lüste, und warte darauf, was mit ihm geschieht.

Der Schaffensprozeß im Atelier als eine Operation, in die sich der Künstler ohne Betäubungsmittel begibt, die ihm häufig Schmerz bereitet und in der er „aus dem unendlichen Arsenal der Formen und Farben eine erste Setzung“ vornimmt: „Im günstigsten Fall lasse ich das Bild zu mir kommen oder es wird von mir vorsortiert, ehe ich mich dem überlasse, was es dann mit mir macht.“

Die Tableaus mit menschengroßen Figuren auf metergroßen Leinwänden zeigen wie eingefroren wirkende Szenerien, des Malers eigene Traumbilder, Visionen, Begleiter, Weggefährten, Apokalypse. Rauch selbst erzählt von „mitunter abenteuerlichen Metamorphosen, die sich auf den Schultern meiner Figuren vollziehen, bis ich dann feststelle, daß jetzt der Richtige in das Bild eingetreten ist“. Das habe mit einer atmosphärischen Stimmigkeit zu tun, in die er hineingerissen werde.

Von Blockwarten will er sich nichts verbieten lassen

Der dichtgewebte Erzählfilz aus dem Inneren, eigentlich ein Psychogramm eines Seelenzustandes, umgesetzt in düster melancholischen Bildern figürlicher Malerei, dieser ganze Bilderkosmos, ist genau das, was das Talent Rauchs charakterisiert und ihn seit Ende der 1990er Jahre zu einem der bestbezahltesten Gegenwartskünstler macht, für dessen Werke hohe sechsstellige Summen gezahlt werden. Insbesondere amerikanische Sammler schätzen seinen Stil, der von sozialistischen Realismus, Pop Art und Comic beeinflußt ist, eigentümlich, suggestiv, zeitlos, verrätselt.

Eng verbunden mit dem Namen Rauch ist die sogenannte Neue Leipziger Schule, also die dritte Generation nach Tübke, Mattheuer und Heisig. Bei letzterem war Rauch, der sein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst 1981 begann, von 1986 bis 1990 Meisterschüler. Rauch habe die „Tugenden seiner Lehrer aufgenommen“ und sei „trotzdem neugierig genug gewesen, ganz andere Inhalte in den Bildern zu formulieren“, sagt Harald Kunde, heute Direktor am Museum Kurhaus Kleve, der den Aufbruch der Leipziger Maler der Wendezeit miterlebt hat.

Um 1993 herum, so Rauch selbst, habe er „die erste Umrundung vollzogen“ und Kurs aufgenommen, in seine eigene Mitte. Die frühen, zu DDR-Zeiten entstandenen und ausgestellten Werke sind vernichtet oder zumindest verworfen, der Versuch, mit Blick auf die Szene hinter dem Eisernen Vorhang „modern“ zu malen, um Anschluß an den westlichen Diskurs zu finden, als „in den Sand gesetzte Lebenszeit“ abgehakt. Damals habe er begriffen, so Rauch gegenüber dem Kunstmagazin Parnass, daß „es besser ist, seine eigenen Wurzeln zu ergründen und die Nährstoffe aufzunehmen, die der Ort bietet“. Um nicht „zum Schwebeteilchen im Strom der Zeit“ zu werden, „hinweggespült von den nachfolgenden Wellen“, sollte man „Wirbel im Strom der Zeit bilden, durch Verankerung im Boden, von einem festen Grund aus, der Heimat, dem Stück Land, aus dem man hervorgegangen ist und seine Ener-

gien zieht“.

Für Rauch ist dieser Ort seine Geburtsstadt Leipzig. In Interviews schwärmt er auch vom Aschersleben seiner Kindheit, mit Fachwerkhäusern und Kopfsteinpflaster, vom weitgespannten Himmel Mitteldeutschlands, von Rübenfeldern, die sich über die Horizonte erstrecken. Auch von Ernst Jünger, „der mich als anregendes Fluidum empfangen hat“.

„Auf den Marmorklippen“ (1939) sei ein unglaubliches Werk: „Diese Figur des Oberförsters, der sein Gelichter und Gesindel um sich versammelt, die ist immer wieder mit neuen Leben erfüllt worden.“ Rauch haßt die „Bagage der Blockwarte, der Gesinnungsschnüffler und Politkommissare“, die sich auch in heutiger Zeit als Wächter der Kunst aufspielen. „Als Maler ist man ein Mensch mit einer besonders feinen Witterung für das Nachzittern oder das Vorzittern von unguten Ereignissen“, hat Rauch einmal gesagt. In der DDR sei er durch eine harte Schule gegangen und habe geschworen, sich nie wieder „von Blockwarten jeglicher Couleur das Maul verbieten, den Schnabel verbiegen und eine Richtung vorgeben“ zu lassen.

Nach dem frühen Tod seiner Eltern – sie sterben bei einem Zugunglück, als er gerade einmal fünf Wochen alt war – wächst Rauch bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf. Ein introvertierter Jugendlicher, der nach dem Abitur als 18jähriges „windelweiches Lämmchen“ in die „rigide, archaische Männerwelt“ der Volksarmee gerät: „Ich habe mich gezwungen gesehen, mich mit äußerster Schärfe durchzusetzen, teilweise sogar in der Nähe physischer Konfrontation“, sagt Rauch über seine dreijährige Dienstzeit.

Zu feige und zu klug, offen zu revoltieren, zwingt er sich in „eine innere Emigration“, und als er es in dieser nicht mehr aushält, stellt er dem Staat und sich ein Ultimatum: „Wenn es so weitergeht mit der mangelnden Reisefreiheit, würde ich zu meinem 30. Geburtstag wohl oder übel einen Ausreiseantrag stellen.“ Letztlich bricht die DDR rechtzeitig zusammen und Rauch arbeitet bis heute in Leipzig.

Eine ab Juni geplante Schau des Leipziger Museums der bildenden Künste aus Anlaß seines 60. Geburtages am 18. April sagte Rauch im Dezember überraschend ab: Die eigene Vergangenheit sitze ihm „noch zu sehr im Nacken, als daß ich mich ihr schon mit erst 60 Jahren mit der gebotenen Altersmilde und Gelassenheit zuwenden könnte“.