© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Die Kirche im Dorf stiftet Gemeinsinn
Kosmopolitismus: Die Coronavirus-Pandemie offenbart auch eine Krise der offenen Gesellschaft
Dietmar Mehrens

Für die einen ist es Größenwahn, für die anderen Globalismus par excellence: ein monströses Großprojekt, das eine gemeinsame Menschheitsanstrengung erfordert und das zeigen soll: Wir sind zu allem fähig, wir können es selbst mit dem Allerhöchsten aufnehmen. Das Buch der Bücher schildert die Geschichte vom Turmbau zu  Babel als mahnendes Exempel für den menschlichen Hang zur Selbstherrlichkeit und ihre unabwendbare Züchtigung durch den souveränen Gott. Der macht der Menschheit einen Strich durch die Rechnung, indem er die Nationen- und Sprachgrenzen erfindet. Die Bibel nennt das „Zerstreuung“. Eine göttliche Züchtigungsmaßnahme also mit zwei Komponenten: einer linguistischen und einer geographischen. 

Mit höheren Mächten hat es die zum globalen Dorf geschrumpfte Welt in der aktuellen Krisensituation ganz offensichtlich auch zu tun. In biblischer Diktion könnte man von einer Plage sprechen, völlig unabhängig davon, ob man die von einem winzigen Virus ausgelöste Weltkatastrophe metaphysisch deutet oder, wie in einer säkularen Gesellschaft üblich, biologistisch.

Solche Plagen, wie sie etwa im alten Ägypten einen halsstarrigen Staatenherrscher zum Einlenken zwangen, nachdem dieser bis zuletzt am falschen Kurs festzuhalten verblendet genug war, haben im Koordinatensystem der postmodernen Gesellschaften keinen Platz. Das zeigt die aktuelle Überforderung der globalen Polit-Eliten. Sie könnte eine Folge derselben Hybris sein, die schon den legendären Turmbau platzen ließ. 

Die Verfechter der offenen Gesellschaft westlicher Prägung haben ihre eigene Bibel: Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, begonnen 1938 und Reflex einer Epoche totalitärer Systeme. Popper brandmarkt den Aberglauben an geschichtlichen Determinismus, weil dieser der Vereinnahmung durch totalitäre Gesellschaftssysteme Vorschub leistet, die sich selbst auf dem Weg zum Ziel der Geschichte die Schlüsselrolle zuweisen. Dem Historizismus stellt er das demokratische Verfahren von Diskurs und Debatte als Grundlage einer Politik gegenüber, die später im historischen Rückblick durchaus auch Sinn ergeben mag. Die geistigen Väter der attischen Demokratie, Sokrates, Protagoras, Perikles und Antisthenes, sind seine Säulenheiligen; er nennt sie pathetisch die „große Generation“. Ihre Gegner, vorneweg ausgerechnet Sokrates-Schüler Platon, verteufelt er hingegen als geistige Wegbereiter des Totalitarismus. Popper wirft ihnen ein Weltbild vor, in dem „der Stamm alles und das Individuum nichts“ ist. Heute würde man es vorgestrig nennen.

In diesem „Tribalismus“ als Kennzeichen der geschlossenen Gesellschaft sieht Popper, zeitbedingt, eine Art Prototyp der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten. Doch erstens ist fraglich, ob reaktionärer Tribalismus wirklich ein Charakteristikum der Platonischen Philosophie ist. Zweitens schüttet Popper gleichsam das Kind mit dem Bade aus, wenn seine Abscheu vor den „magischen Obsessionen“ der Stammeskultur sich auf die religiöse Sinnstiftung schlechthin erstreckt; man könnte schließlich auch, wie der von Popper angegriffene britische Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee, in der Religion ein kulturkonstitutives Element sehen.

Und schließlich muß drittens auch auch Popper einräumen, daß die geschlossenen Gesellschaften nicht nur Defizite haben: Gemeinsinn, Zusammenhalt, Stabilität und Wehrhaftigkeit ergeben sich von selbst aus einer kollektiven Identität. Vor allem aber, betont der seit 1937 im neuseeländischen Christchurch Lehrende, vermitteln sie ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Es nimmt also nicht wunder, daß der Schutz der Volksgemeinschaft vor Fremdeinflüssen in der Antike ein wiederkehrendes Thema ist, in den Schriften des Alten Testaments sogar eine Art Dauerbrenner. Die Geschichtsbücher senken oder heben über jede Epoche den Daumen, je nachdem, ob der jeweilige Herrscher Abgötterei duldete oder dem Jahwe-Glauben die Treue hielt.

Übernationale Imperien sind zerfallen

Der Zusammenbruch der geschlossenen griechischen Gesellschaft beginnt Popper zufolge mit Wachstum, Seefahrt, Handel und dem dadurch bedingten Kontakt zu Fremdkulturen. Bewährte Tugenden, alte Traditionen und die alte Religion hätten einer neuen, demokratischen Tradition des Diskutierens und Hinterfragens weichen müssen. Er nennt das einsetzende Zivilisation.

Gegenwärtig aber sehen wir das, was in Athen so verheißungsvoll begann, in einer beispiellosen Krise. Der französische Soziologe Emmanuel Todd hat in seiner soziohistorischen Analyse „Traurige Moderne“ den Nachweis geführt, daß Tribalismus keineswegs so vorgestrig ist, wie es Popper in Anbetracht der Verirrungen der NS-Zeit vorkommen mußte. Der Franzose schreibt die „Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus“ als Familienstrukturgeschichte. Die sei bei den Völkern, die jetzt als EU eine Einheit bilden sollen, sehr unterschiedlich verlaufen. Todds vernichtendes Fazit: Die Vorstellung, alle Europäer seien „kulturell gleich (...) und Europa ein homogener Raum“, sei die „romantische Idee“ überenthusiastischer Visionäre mit „anhaltender Realitätsverweigerung“. Übernationale Imperien wie die Sowjetunion oder Jugoslawien sind zerfallen, und ehe sie zerfallen sind, war es auch nur Zwang und nicht etwa eine grandiose politische Idee, was sie zusammenhielt. Europa ist auch so eine Idee. Sie konnte den Streit an der Grenze zwischen dem Saarland und Frankreich wegen „Corona“ nicht verhindern. Was aber hält Gesellschaften zusammen? Todd nennt Familie und Religion. Sie bilden, erklärte er im August 2018 in einem Spiegel-Interview, Wurzeln im Unbewußten, „während Wirtschaft und Politik sich an der Oberfläche der Geschichte, im Bereich des Bewußten abspielen“. 

So richtig und wichtig also Poppers Plädoyer für die freie, offene Gesellschaft ist, so deutlich zeichnet sich seit einigen Jahren ab, daß wir es mit einer entarteten Form dieses Konzepts zu tun haben. Während Athen buchstäblich zu neuen Ufern aufbrach und damit der Fortschritt Einzug hielt, ist in der Explosion des internationalen Flugverkehrs ein monströser Mutant jener Mobilität zu erkennen, die die attische Demokratie stark machte. Für die Welt-Vitalität eher Rück- als Fortschritt.

In China hat sich das Passagieraufkommen der zivilen Luftfahrt in den vergangenen zwanzig Jahren verzehnfacht (1999: 61 Millionen Fluggäste, 2018: 612 Millionen). Es fällt schwer, die global recht unterschiedlichen Verläufe der Sars-CoV-1-Epidemie von 2003 und der aktuellen Sars-CoV-2-Epidemie nicht mit diesem exponentiellen Wachstum in Verbindung zu bringen.

Die Corona-Krise ist wie die Flüchtlingskrise vor allem eine Krise der offenen Gesellschaft, die heute bekanntlich, passend zum globalen Ausmaß der grassierenden Seuche, gern „weltoffen“ genannt wird. Ein Kampfbegriff, mit dem eine avantgardistische, kosmopolitisch denkende und sich mit der Weltsprache Englisch verständigende Elite in nicht allzu ferner Zukunft den Nationen das Totenglöckchen läuten zu dürfen und so gleichsam die Doppelsanktion von Babel aus eigener Kraft rückgängig zu machen hofft.

Abstrakte Begriffe entfalten keine Bindungskräfte

Popper hält die offene Gesellschaft für alternativlos. Doch seine Vernunft-Apotheose ist es nicht. Seinem immanenten Heilsweg stellte der emeritierte Papst Benedikt XVI., einer der brillantesten Intellektuellen unseres Zeitalters, 2019 in dem Buch „Zurück zu Gott“ den transzendenten des Gläubigen gegenüber. Dem kriselnden Europa schrieb er ins Stammbuch: „Nach der Erschütterung des 2. Weltkriegs hatten wir in Deutschland unsere Verfassung noch ausdrücklich unter die Verantwortung vor Gott als Leitmaß gestellt. Ein halbes Jahrhundert später war es nicht mehr möglich, die Verantwortung vor Gott als Maßstab in die europäische Verfassung aufzunehmen.“

Während seiner Amtszeit als Kirchen-oberhaupt hat er immer wieder darauf hingewiesen, daß es beim Kontakt mit anderen kulturell-religiösen Prägungen darauf ankommt, daß man selbst noch eine Prägung hat. Sonst werde die Begegnung schnell zur Überwältigung.

Auch wer Benedikts Glaubensstandpunkt nicht teilt, wird vermutlich zustimmen, daß die Kirche im Dorf immer noch mehr Heimat und Geborgenheit ausstrahlt als das globale Dorf. Eine prägende, Identität und Gemeinsinn stiftende Tradition, sinnlich Erfahrbares wie der Urbi-et-orbi-Segen von Rom, das Weihnachtsliedersingen unterm Christbaum, das neue Leben im Osterei-Symbol: all das und vieles mehr kann man nicht einfach als Rudimente eines magischen Stammesglaubens abtun und gleichzeitig hoffen, daß abstrakte Begriffe und politische Parolen, die keinerlei Bindungskräfte entfalten, ihren Platz einnehmen. Hier ist der Individualismus gegenüber dem Stammeskollektiv im Nachteil.

Es gab Vorboten der aktuellen Krise. Neuzeitlichen Kassandras gleich, trugen die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ nicht weniger entschlossen als die Geängstigten der „Fridays for Future“-Bewegung ihr über die Jahre gewachsenes Unbehagen auf die Straße. Eine aus dem Ruder gelaufene Offenheit der Märkte und Kulturen erscheint sowohl jugendlichen Ökofundamentalisten und linken Globalisierungsgegnern als auch rechten Migrationsskeptikern als zerstörerischer globaler Riesenkrake. Daß nun ein mikroskopisch kleiner Virus die Erfüllung ihrer Forderungen erzwingt, ist eine sonderbare Ironie der Geschichte.

Es bleibt abzuwarten, ob die westlichen Zivilisationen ihren engstirnigen Rationalismus zu transzendieren fähig, die Hybris eines glaubenslosen Autonomiedenkens zu überwinden willens und schließlich bereit sind, aus der Duplizität von vielstimmiger Kritik und fataler Beglaubigung derselben durch „höhere Gewalt“ die richtigen Schlüsse zu ziehen – oder ob sie so harthörig bleiben wie der Pharao in Anbetracht der zehn Plagen. Schließlich steht die nächste schon vor der Tür.





Elias Canetti: Masse und Macht (1960)

„Eine besondere Art von Masse bildet sich durch ein Verbot: Viele zusammen wollen nicht mehr tun, was sie bis dahin als einzelne getan haben. Das Verbot ist plötzlich; sie erlegen es sich selber auf. (…) Es hat die Unbedingtheit eines Befehls, doch entscheidend an ihm ist sein negativer Charakter. Es kommt, auch wenn es den gegenteiligen Anschein haben sollte, nie wirklich von außen. Immer entstammt es einem Bedürfnis der von ihm Betroffenen selbst. (…) Was sie ohne viel Aufhebens bis jetzt getan haben, als wäre es ihnen natürlich und gar nicht schwer, das tun sie nun plötzlich auf keinen Fall. An der Bestimmtheit ihrer Weigerung ist ihre Zusammengehörigkeit zu erkennen. (…) Das Verbot ist eine Grenze und ein Damm; nichts kann jene überschreiten, nichts diesen durchdringen. Einer bewacht den anderen, um zu sehen, ob er ein Teil des Dammes bleibt. Wer nachgibt und das Verbot überschreitet, wird von den anderen verpönt.“