© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Die Sezession der schönen Insel
Vor 125 Jahren fiel Taiwan an Japan / Nach 1945 geriet sie in den Strudel des Bürgerkriegs
Peter Kuntze

Für die nächsten dreißig Jahre könnte die Taiwan-Frage der erste Konflikt sein, der nach der Kuba-Krise von 1962 das Potential eines großen Krieges in sich birgt, denn er läuft auf eine Konfrontation zwischen China und den USA hinaus. Während die Volksrepublik bis zum 1. Oktober 2049, dem hundertsten Jahrestag ihrer Gründung, die Wiedervereinigung mit der „abtrünnigen Provinz“ notfalls auch mit Gewalt anstrebt, fühlen sich die USA dem Inselstaat mit seiner funktionierenden Demokratie politisch und militärisch verpflichtet. 

Von 1895 bis 1945 gehörte Taiwan zu Japan

Als Ilha formosa („Schöne Insel“) bezeichneten portugiesische Seeleute das Eiland, das sie 1583 als erste Europäer erreichten. Vierzig Jahre später, 1624, besetzte die holländische Ostindien-Kompanie den Süden der Insel, die nicht viel größer als Baden-Württemberg ist. Zu jener Zeit war Taiwan, das nur 130 Kilometer vom chinesischen Festland entfernt ist, fast ausschließlich von indigenen austronesischen Völkern bewohnt. Doch bald schon, angeworben von der niederländischen Kolonialverwaltung, wanderten immer mehr chinesische Siedler ein, deren Nachkommen heute die Mehrheit der fast 24 Millionen Einwohner stellen.

Mitte des 17. Jahrhunderts vertrieb Koxinga, ein Kriegsherr chinesisch-japanischer Abstammung, die Holländer. 1683 wurde die Insel von der mandschurischen Qing-Dynastie (1644–1911) annektiert und ihrem Reich eingegliedert. Vor 125 Jahren, am 17. April 1895, mußte China nach seiner Niederlage im Krieg gegen Japan den Friedensvertrag von Schimonoseki unterzeichnen und Taiwan sowie die Inselgruppe der Pescadoren an Tokio abtreten. Da sich die Provinzregierung der Annexion widersetzte und die „Republik Formosa“ ausrief, mußten die Soldaten des Tennos in einem mehrmonatigen Feldzug die Insel erobern. Für die nächsten fünfzig Jahre blieb sie japanische Kolonie.

Gemäß den in der Kairoer Erklärung von 1943 festgelegten Zielen der amerikanisch-britisch-chinesischen Alliierten wurde Taiwan 1945, nach der Kapitulation Japans, in die 1911 gegründete Republik China als den Nachfolgestaat des gestürzten Kaiserreichs eingegliedert. Auf dem Festland war unterdessen der Bürgerkrieg zwischen der regierenden Kuomintang (KMT, Nationale Volkspartei) unter Führung des Generalissimus Tschiang Kai-schek und den Kommunisten wieder aufgeflammt, der 1949 mit dem Sieg Mao Tse-tungs, der Proklamation der Volksrepublik und der Flucht der Nationalisten nach Taiwan zu Ende ging.

Von nun an standen sich zwei konträre Positionen gegenüber: Sowohl Tschiang als auch Mao nahmen für ihre jeweilige Regierung in Anspruch, die allein rechtmäßige ganz Chinas zu sein. Die besseren Karten schien zunächst Tschiang zu haben: Unterstützt von den USA, setzte er auf die Rückeroberung des Festlandes – im Glauben, das isolierte und im Westen geächtete KP-Regime werde bald zusammenbrechen. Da die Republik China 1945 Gründungsmitglied der Vereinten Nationen war, hatten ihre Vertreter auch als Exilregierung einen der fünf Ständigen Sitze im Weltsicherheitsrat inne.

Besonders gut läßt sich die innerchinesische Spaltung am Beispiel der Sungs, einer der vier einflußreichsten Familien Anfang des letzten Jahrhunderts, verdeutlichen: Während sich Sung Mei-ling auf die Seite der Nationalisten stellte und Tschiang Kai-schek heiratete, hatte ihre ältere Schwester Sung Tsching-ling den Republikgründer Sun Yat-sen geehelicht, sich nach dessen Tod (1925) den Kommunisten angeschlossen und wurde 1959 Vizepräsidentin der Volksrepublik – ein Amt, das sie bis zu ihrem Tod 1981 bekleidete. Beider Bruder, T. W. Sung, hatte in Harvard studiert und wurde Finanz- und später Außenminister in der Regierung seines Schwagers. Von Taiwan aus dirigierte er die nationalchinesische Lobby in den USA, die Washingtons Außenpolitik maßgeblich beeinflußte, bis Präsident Richard Nixon einen radikalen Kurswechsel einleitete.

1971 konnte Peking Taiwans Stelle in der Uno ergattern

Bereits 1967 hatte der Republikaner in der Zeitschrift Foreign Affairs bekannt: „Auf lange Sicht können wir es uns nicht leisten, China außerhalb der Völkergemeinschaft zu halten. Auf unserem Planeten gibt es nicht so viel Raum, daß eine Milliarde potentiell fähigster Menschen in zorniger Isolation leben.“ Vier Jahre später war es soweit: Im Oktober 1971 erlitten die USA mit dem Ausschluß Nationalchinas aus der Uno und der Übertragung des Sitzes im Sicherheitsrat von der Republik China auf die Volksrepublik eine schwere Niederlage. Schon fünf Monate später zog Nixon die Konsequenz und besuchte als erster US-Präsident den Erzfeind von gestern.

Im Schanghaier Communiqué vom 27. Februar 1972 bestätigten die USA, daß Taiwan wie Tibet ein integraler Bestandteil Chinas sei, und verpflichteten sich zur Nichteinmischung in dessen innere Angelegenheiten. 1979 tauschten beide Staaten Botschafter aus. Washington brach mit der Republik China, kündigte den Verteidigungspakt mit dem Kuomintang-Regime auf und erkannte die Regierung der Volksrepublik als einzig rechtmäßige ganz Chinas an. Seitdem hat jedes Land, das Beziehungen mit Peking unterhält, diese Ein-China-Politik akzeptiert. Taiwan wird nur noch von fünfzehn Kleinstaaten, darunter dem Vatikan, als Republik China anerkannt – ein weiteres bitteres Kapitel in der Geschichte der Insel.

Hatten viele Taiwanesen 1945 die Übernahme durch die Truppen der Republik noch freudig begrüßt, machten sich die neuen Herren durch Korruption und Brutalität bald verhaßter als die Japaner. Die Unruhen steigerten sich zum Volksaufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. 1949 floh Tschiangs Regierung auf die Insel, zwei Millionen Festlandschinesen folgten ihr. Mit ihren Nachkommen stellen sie heute rund fünfzehn Prozent der Bevölkerung. Das Kuomintang-Regime, das 1949 das Kriegsrecht verhängt hatte, herrschte vier Jahrzehnte lang. Verbittert über den „Verrat“ der USA, starb Tschiang Kai-schek 1975 in Taipeh. Sein Sohn Tschiang Tsching-kuo mußte der immer stärker werdenden Opposition Tribut zollen und hob 1987 das Kriegsrecht auf. 1996 fanden die ersten freien Wahlen statt.

Taiwans Wirtschaft ist seitdem eng mit Festlandchina verflochten und rangiert, besonders im IT-Bereich, an der Weltspitze. Gleichwohl verstärkt sich mit Blick auf die Vorgänge in Hongkong die Haltung auf Eigenstaatlichkeit. Während Vertreter der Kuomintang und der chinesischen KP im „Konsens von 1992“ ihre Ein-China-Doktrin bekräftigten, strebt die Demokratie-Bewegung mittelfristig die Unabhängigkeit an. Für Peking wäre das der casus belli. Die Wiederwahl der auf einen eigenständigen Kurs bedachten Präsidentin Tsai Ing-wen am 11. Januar dürfte das Verhältnis zur Volksrepublik, die am Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ festhält, daher für weitere vier Jahre nicht entlasten. Hinzu kommt, daß US-Präsident Trump am 26. März die „Taiwan Allies International Protection and Enhancement Initiative“ unterzeichnet hat, ein vom US-Kongreß einmütig beschlossenes Gesetz, das Taiwans internationale Präsenz stärken soll.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (2014).