© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Auf Schatzsuche
Zu Hause in der Corona-Krise entdeckt die Enkelgeneration die Briefmarkensammlung der Großväter
Paul Leonhard

Mit Römern, Artenschutz und Dauerserien durch die Corona-Krise, das schlägt der Bund Deutscher Philatelisten vor und hofft, Themen entdeckt zu haben, die insbesondere den Nachwuchs locken. Denn dieser fehlt den bundesweit nur noch 39.000 (letzter Stand: 2014) in ihm organisierten Sammlern von Postwertzeichen und Sonderdrucken.

Wenn bundesweit alle Schulen geschlossen und keine Treffen mit Freunden möglich sind, dann müßte das doch eine ideale Zeit sein, „sich mit der Briefmarkensammlung zu beschäftigen und diese auf Vordermann zu bringen“, schreibt die Interessenvertretung der Briefmarkensammler in Deutschland auf ihrer Internetseite und bietet speziell der Deutschen Philatelisten-Jugend (DPhJ) einen besonderen Service an: Die drei zuletzt erschienenen Hefte der Zeitschrift Junge Sammler mit den Themen „Götter, Cäsaren und Gladiatoren – das Römische Weltreich“, „Artenschutz – Naturschutzgebiete und Zoos in aller Welt“ und „Dauerserien“ über die DPhJ-Homepage (www.dphj.de) in der Rubrik „Junge Sammler“ können ab sofort und ohne Kennworteingabe gelesen werden. 

Ein Angebot, mit dem man „etwas Abwechslung vom eintönigen Corona-Alltag bieten“ möchte, und vielleicht motiviere die Heftlektüre „zu einem komplett neuen Sammelgebiet oder Ausstellungsexponat“, hofft der Philatelistenverband, dessen Landesverbände Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalts sich bereits vor einigen Jahren mangels Sammlern aufgelöst haben.

Längst ist das Briefmarkensammeln vom einstigen Volksphänomen zu einer Angelegenheit weniger, aber um so enthusiastischerer Sammler geworden. Diese sind über das Internet und Großtauschtage verbunden. Allein zwischen dem 29. November und dem 20. Dezember sind ein Dutzend angekündigt, in Wieseck, Düren, Heidelberg, Bietigheim-Bissingen, Chemnitz, Ottobrunn, Aachen,Waldshut-Tiengen und Köln-Weidenpesch.

Viele Alben sind kaum mehr etwas wert

Derzeit, Langeweile daheim und eine Finanzkrise sich anbahnend, dürften in vielen Haushalten erneut die verstaubten Briefmarkenalben zur Disposition stehen. Was damit tun? Einfach in den Container werfen, um dann am nächsten Tag zu lesen, daß ein aufgeweckter Halbstarker die Blaue Mauritius aus einer Tonne gefischt hat? Die Unsicherheit ist groß. Hatte Großmutter nicht immer gejammert, daß ihr Mann das ganze Geld in seine Sammlung stecke? Und hatte dieser nicht geseufzt, daß Oma gar nicht verstünde, was da für Werte schlummern?

„Im durch Corona verlängerten Frühjahrsputz konnte ich mich nun mal intensiv den vererbten Ordnern widmen, die seit Jahren neben den alten Fotoalben standen“, erzählt ein Mittdreißiger aus Berlin der JUNGEN FREIHEIT. Doch ein erster Wertcheck bei Ebay, in Online-Auktionshäusern und in bei Amazon bestellten Sammlerkatalogen sei ernüchternd gewesen. „Mein Opa hat immer von etwa 10.000 D-Mark gesprochen. Ich komme in den ersten Schätzungen auf höchstens 1.500 Euro – wenn ich überhaupt einen Interessenten finde.“

Dabei können Briefmarken viel wert sein. Für die „British Guiana 1c Magenta“ wurden neun, für „The Treskilling Yellow“ gute zwei sowie für die ersten beiden Marken von Mauritius immerhin noch über eine Million Euro bezahlt. Die eigene Briefmarkensammlung aus der Jugendzeit, einschließlich der von den Großvätern übernommenen Kolonialmarken, mag zwar erheblichen Katalogwert haben, ist aber im realen Leben oft unverkäuflich. Niemand zeigt Interesse.Unter dem freien Himmel der Trödelmärkte stapeln sich in Obstkisten randvolle Schaubek-Alben. Zu Lebzeiten ihrer Besitzer wurde ihr Inhalt wie ein Schatz gehandelt, auf dem Sterbebett diese „Aktien des kleinen Mannes“ der übernächsten Generation ans Herz gelegt, jetzt sind sie größtenteils entwertet. 

Erzähler deutscher und europäischer Geschichte 

Trotzdem scheint es noch ausreichend Sammler zu geben, denn die Deutsche Post und ihre private Konkurrenz druckt zu allen möglichen Anlässen fleißig Sondermarken. Es gibt Sonderstempel bei Stadtfesten und Jubiläen. Sogar Privat-Briefmarken mit dem eigenen Konterfei kann man sich als gültiges Postwertzeichen drucken lassen.

Vielleicht ist das Geheimnis der Philatelie, daß es weniger Sammler als vielmehr Jäger bedarf, die sich immer mehr spezialisieren. Auf Überdrucke des Deutschen Reiches beispielsweise oder der Kolonien. Die wechselhafte europäische Geschichte läßt sich am Beispiel von Briefmarken wunderbar nachvollziehen, insbesondere in der reichen Markenwelt der beiden konkurrierenden deutschen Staaten und des Sondergebietes West-Berlin. Sogar Propagandafeldzüge fanden mittels Briefmarken statt, was so weit ging, daß DDR und BRD sich weigerten, Briefe mit bestimmten Motiven zum Empfänger zu transportieren und retour schickten. 

Und was wird aus der Massenware? Vielleicht hilft ein Blick in die Vergangenheit: Nachdem 1840 die erste Briefmarke der Welt in Großbritannien erschienen war und andere Länder diese Idee aufgriffen, begannen viele Menschen die kleinen Drucke aus der Tagespost zu sammeln: einige beklebten damit Lampenschirm oder Tapeten. Aber wer weiß: Vielleicht haben die Urenkel in einigen Jahrzehnten einmal eine sehr wertvolle Wand oder zumindest schöne Erinnerungsstücke an eine Leidenschaft der Vorväter.