© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Der Flaneur
Umsonst mit dem Zug
Paul Leonhard

Der Morgengruß, mit dem der Lokführer sonst die bereits im Wagen sitzenden Fahrgäste bedenkt, fällt heute aus. Der Mann marschiert schnurstracks in sein Kabuff. Huch, ist der schlecht gelaunt, denke ich noch, als es auch schon aus dem Führerstand wettert: „Nichts vorbereitet, ist das eine Sauwirtschaft.“ 

Er fuhrwerkt in seiner Kabine herum: „Da kriegst du einen Anfall.“ Dann sekundenlange Ruhe. Ich höre, wie ein Telefon selbständig eine eingespeicherte Nummer wählt: piep, piep, piep. Ein Stöhnen, dann knallt die Tür auf und der Mann geht eiligen Schrittes an mir vorbei und verschwindet.

Aufgrund der aktuellen Situation sei kein Fahrkartenverkauf im Zug möglich.

Eine Minute nach unserer fahrplanmäßigen Abfahrtszeit erscheint er erneut. Vielleicht war er einen Kaffee trinken, denn diesmal grüßt er mich, seinen, zumindest im vorderen Teil des Zuges, einzigen Fahrgast, und setzt sich auf seinen Platz mit Blick auf die vor uns liegenden Gleise. 

„Nein, ich stehe noch hier“, spricht er in sein Handy. „Ich brauche noch 30 Sekunden, dann bin ich fahrbereit.“ Da das Telefon auf Lautsprecher gestellt ist, höre ich auch die Antwort: „Okay, dann mache ich die Strecke frei.“

Erneutes Gegrummel von vorn. Dann ein entsetzter Ausruf: „O nee, leck mich.“ Hat er jetzt den Kaffee über den Leitstand gekippt? Ich erfahre es nicht, denn der Diesel springt an. Die Lampen im Großraumabteil flackern auf. Der ganze Wagen erwacht. 

Der Führer hüstelt ins Mikrofon, begrüßt jetzt offiziell seine Fahrgäste, nennt das Ziel und wünscht eine angenehme Fahrt. Erneutes Hüsteln. Leider sei aufgrund der aktuellen Situation kein Fahrscheinverkauf im Zug möglich: „Wir bitten um Verständnis.“ Bedeutungsvolles Schweigen im Lautsprecher. Dann ein weiterer Satz: „Sie können aus diesem Grund diese Fahrt umsonst antreten.“ Kostenlos muß das heißen, denke ich, aber der Mann da vorn hat offenbar Sinn für Dramatik. Er schiebt noch ein Wort nach: „Heute.“