© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Das Recht auf Heimat
Sudetendeutsche, Schlesier, Pommern, Ostpreußen: Vor siebzig Jahren wurden die ersten Vertriebenenverbände gegründet
Gernot Facius

Die Corona-Pandemie macht die sorgfältigsten Planungen zunichte. Erstmals seit 1950 ist das große Pfingsttreffen der Sudetendeutschen abgesagt. Eine Tradition wird unterbrochen, auch bei anderen Landsmannschaften: ausgerechnet ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende, der Massenflucht vor der Roten Armee und der Vertreibung der Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten in Mittel- und Osteuropa. Die „Stallwachen“ in den Hauptstädten der ehemaligen Vertreiberstaaten können sich getrost in ihre Wochenendhäuser und Datschen zurückziehen: Sie müssen in diesem Jahr keine „revanchistischen“ Reden kommentieren. Und Berliner und Münchner Politikern bleibt die Peinlichkeit erspart, ihre ost- und sudetendeutschen Stammwähler mit Verlegenheitsfloskeln abzuspeisen.

Die politische Relevanz der Vertriebenenverbände wird allerdings, da braucht es keine hellseherische Begabung, noch mehr zurückgehen. Das liegt an ihrer Geschichte. Für den Sozialwissenschaftler Manfred Max Wambach (1928–2003) waren sie ausgesprochene „Spätkommer“, und als solche konnten sie nur noch begrenzt auf das politische Geschehen Einfluß nehmen. In einer 1971 vorgelegten Untersuchung beschrieb Wambach ihr Dilemma: „Im Falle der Vertriebenenverbände legte die Parteipolitik den Rahmen fest, in dem die politische Potenz der Verbände wirksam werden konnte. Trotz ihrer intensiven Einflußnahme auf Fraktionen und Parlamentsausschüsse sowie Ministerien und Verwaltungen waren sie dem politischen Oligopol der Parteien nicht gewachsen.“ 

Dieses nüchterne Fazit widerlegt die alte Propagandalüge der Linken von den „mächtigen revanchistischen Einflüssen“ auf das Bonner Regierungshandeln. Der Bund der Vertriebenen (BdV) war mitnichten die furchterregende Großkampfmaschine, als die ihn mit Vorliebe die Ostblock-Propaganda zeichnete. Als er 1958 als Dachverband die politische Bühne betrat, war die Nachkriegsgesellschaft im „Wirtschaftswunderland“ bereits fest positioniert, und als Wambach 23 Jahre später seine Ausarbeitung vorlegte, ließ sich der Bedeutungsverlust der Vertriebenenverbände schon nicht mehr übersehen. Vier Millionen Mitglieder hatte der föderalistisch organisierte BdV in den späten 1950er Jahren, zwei Jahrzehnte später waren es nur noch etwa zwei Millionen – mit  stetig sinkender Tendenz; heute werden die korrekten Zahlen unter Verschluß gehalten.

In der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) verlor der Verband weiter an Bedeutung. Der Historiker Matthias Stickler: „Das zeigte sich eben dann auch bei der Wiedervereinigung 1990, daß es dem BdV nicht gelungen ist, in der Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch das vereinigte Deutschland in irgendeiner Form Einfluß zu nehmen auf die Politik.“ Nichts sei endgültig geregelt, es sei denn einigermaßen gerecht geregelt, hatte der damalige BdV-Präsident Herbert Czaja (CDU) immer wieder gesagt. „Unser Ziel bleibt die freie Heimat im freien Europa.“ Auch er wurde in manchem enttäuscht. In der EU blieb die konkrete Einlösung des „Rechts auf die Heimat“, wie das die Charta der Vertriebenen von 1950 verlangt, unerfüllt. Selbst auf den Großtreffen der Landsmannschaften tut man sich heute schwer damit, dieses Recht zu definieren und einzufordern. Von den menschen- und völkerrechtswidrigen Benesch-Dekreten, von denen sich das demokratische Prag noch immer nicht lösen kann, ist nur noch ganz leise die Rede. Auch der „Heimwehtourismus“ läßt nach. Die Jahrgänge, die zur „Erlebnisgeneration“ gehören, sterben weg. Rüdiger Jakesch, Vorsitzender des Berliner BdV-Landesverbandes, wußte es schon vor zehn Jahren: „Die Vertriebenen haben es nicht geschafft, ihre Kinder über die Jahrzehnte so stark zu integrieren in den Landsmannschaften, daß sie da mitmachen. Die jungen Menschen haben keine Beziehung mehr zu dem, was mal die Heimat ihrer Eltern war.“ Die Frankfurter Allgemeine erschien 2017 mit der polemischen, gleichwohl nicht ganz unzutreffenden Schlagzeile: „ Der Bund der Aussterbenden“.

Die Fragilität war den Verbänden gleichsam mit in die Wiege gelegt worden. Die westlichen Siegermächte hatten durch eine rigide Lizenzierungspraxis zunächst die Bildung solcher Organisationen verhindert, erst 1948/49 wurde das Koalitionsverbot gelockert. Mit dem von Waldemar Kraft in Schleswig-Holstein gegründeten Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) meldete sich 1950 erstmals eine „Vertriebenenpartei“ zu Wort. Ihr Motto: „Das ganze Deutschland soll es sein.“ Der politische Neuling war bis 1957 im Kabinett Adenauer vertreten, bis 1966 noch in der hessischen Landesregierung. Der durch den CDU-Bundestagsabgeordneten Linus Kather (er schloß sich später der NPD an) vorangetriebene Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD) verstand sich als eine vor allem auf soziale und wirtschaftliche Ziele ausgerichtete Vereinigung, allerdings mit dem Anspruch, überregional die Vertriebenen zu vertreten. Diese Vorstellung kollidierte mit anderen Bestrebungen, die in die Gründung der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL) mündeten. Bei ihnen standen die heimatpolitischen Interessen im Vordergrund. Erst 1958 kamen beide Verbände unter ein gemeinsames Dach: den BdV. Er war damals in den beiden großen Volksparteien, Union und SPD, noch fest verankert. Erst die von Willy Brandt initiierte „neue Ostpolitik“ hat das Bild verändert: Viele Vertriebene kehrten der SPD den Rücken. Dabei waren es in vielen Orten der Bundesrepublik vor allem Sudetendeutsche, Schlesier und Ostpreußen, die die Sozialdemokratie wiederbelebt hatten. Die SPD in Hessen war ohne Sudetendeutsche wie Wenzel Jaksch nicht denkbar.

 „Lange Zeit tendierte das Gros der Vertriebenen mehr zur SPD, während die CDU/CSU eher als Partei der Einheimischen galt“, hielt der Historiker Andreas Kossert in seinem Buch „Kalte Heimat“ fest, mit dem er auch den Mythos von der rundum geglückten Integration erschütterte. Auf ihrem Karlsruher Parteitag von 1964 tagten die Sozialdemokraten demonstrativ unter einer großformatigen Landkarte Deutschlands in den Grenzen von 1937. Die Partei warb gezielt um Vertriebene, um dem „Machtwechsel“ näher zu kommen. Als es 1969 soweit war, entfremdete sich die SPD mit ihrer „neuen Ostpolitik“ von diesen Wählern. „Wer Schlesien, Pommern und Ostpreußen verrät, verrät auch Deutschland“ – mit diesem Transparent protestierten Schlesier 1971 während ihres Deutschlandtreffens in München gegen die Ostverträge. Die heimatpolitischen Vorstellungen im BdV waren freilich nie deckungsgleich; eine umfassende ostpolitische Konzeption, die ein Gegengewicht zur Außenpolitik der Bundesregierungen hätte bilden können, scheiterte an den Gegensätzen zwischen den „reichsdeutschen“ und den „habsburgischen“ Landsmannschaften. „Schlesiern, Pommern und Ostpreußen konnte ja nicht verborgen bleiben, daß das Pochen vor allem der schlagkräftigen Sudetendeutschen Landsmannschaft auf dem Heimat- und Selbstbestimmungsrecht sowie deren zusammenhängende Position gegenüber dem Münchner Abkommen von 1938 das ohnehin schwach ausgeprägte Verständnis der westlichen Alliierten für die Wiederherstellung der Reichsgrenzen von 1937 nicht eben zu fördern vermochte“, meinte Manfred Kittel, ehemaliger Gründungsdirektor der Berliner Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. 

Was heute in Vergessenheit geraten ist: Die am 17. Juli 1945 in München gegründete „Sudetendeutsche Hilfsstelle“ war die erste landsmannschaftliche Gründung überhaupt. Sie wurde verboten. Zwei Jahre später formierte sich der „Hauptausschuß der Flüchtlinge und Ausgewiesenen in Bayern“. Man beachte die Bezeichnung: Von Vertriebenen durfte damals noch nicht die Rede sein, das hatten die Besatzer untersagt. Selbst kirchliche Stellen nahmen das hin, aber sie hielten ihre schützende Hand über die Gruppenbildungen.

Am 25. Januar 1950 wurde in Detmold die Sudetendeutsche Landsmannschaft Bundesverband gegründet, am 26. März 1950 folgte in Räumen des Bundesvertriebenenministeriums in Bonn die Gründung der Landsmannschaft Schlesien; über die Schlesier übernahm am 3. Oktober das Land Niedersachsen die Patenschaft. Ostpreußen und Pommern hatten bereits 1948 beziehungsweise 1949 Zusammenschlüsse eingeleitet.

Immer wieder mußte sich der Bund der Vertriebenen gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, er sei ein Hort des „Revisionismus“ und des „Rechtsextremismus“; von der „DDR“ lancierte Verdächtigungen wurden von westdeutschen Medien ungeprüft weitergegeben. Dabei ist es rechtsextremistischen Parteien wie der NPD nie gelungen, den BdV oder seine Landsmannschaften für ihre Ziele einzuspannen. „Obwohl die Verbände begründete Zweifel an der heimatpolitischen Zuverlässigkeit der großen Volksparteien hegten, gerieten sie in diesem Punkt niemals ins Wanken“ (Andreas Kossert). Wenn Mitglieder von Vertriebenenverbänden für die NPD kandidierten, wie etwa der Sudetendeutsche Reinhard Pozorny, so geschah dies ohne Rückendeckung der Verbandsführungen.

Erfolglos blieben auch Versuche von linksextremistischer Seite, über den 1951 gegründeten „Westdeutschen Flüchtlingskongreß“, eine von der SED gesteuerte kommunistische Tarnorganisation, Einfluß auf die Vertriebenen zu gewinnen. Die Verbände und das Gros ihrer Mitglieder haben sich selbst in politischen Krisenzeiten als demokratisch zuverlässig erwiesen.