© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Auf dem Weg in die Moderne
Kunstgeschichte: Das Berliner Georg-Kolbe-Museum arbeitet in den kommenden Jahren bisher fehlende Teile des Nachlasses des Bildhauers auf
Fabian Schmidt-Ahmad

Genau 108 Umzugskartons umfaßt die Sensation, mit der das Berliner Georg-Kolbe-Museum aufwartet. In diesen Kartons befindet sich der Nachlaß Georg Kolbes, den dessen einzige Enkelin Maria Freifrau von Tiesenhausen aufbewahrt hatte und nun dem Museum in Kolbes ehemaligem Atelierhaus vermachte. Über hundert Aquarelle und Zeichnungen aus der Hand des Bildhauers warten jetzt ebenso auf ihre wissenschaftliche Erschließung wie Dutzende Notizbücher, Fotoalben und Aktenordner des zu seiner Zeit weltberühmten Künstlers.

Siebzig Jahre, von 1877 bis 1947, umfaßt die Lebensspanne des im sächsischen Waldheim geborenen Kolbe, die nun gut dokumentiert vorliegt. Kolbe begann seine Karriere als Maler, studierte in Dresden, München und an der Académie Julian in Paris; erst nach der Jahrhundertwende fand er autodidaktisch zur Plastik. Seit 1905 Mitglied der Berliner Secession, wurde er weithin bekannt mit der Plastik „Tänzerin“ (1912).Rasch stieg er in den folgenden Jahren zu einem der führenden Bildhauer auf. Wie für viele Künstlerkollegen bedeutete auch für Kolbe der NS-Staat das Ende einer erfolgreichen Laufbahn. Durch seine figürliche Formsprache, die nicht mehr dem Zeitgeschmack entsprach, geriet er in der Nachkriegszeit in Vergessenheit.

Nicht nur die Kolbe-Forschung darf nun auf neue Impulse hoffen. Von besonderer Bedeutung dürfte die umfangreiche Korrespondenz Kolbes mit seinen zahlreichen Künstlerfreunden wie Max Pechstein oder Else Lasker-Schüler sein, aber auch mit Kunsthändlern und Mäzenen, darunter Alfred Flechtheim, sowie mit Sammlern wie Rockefeller und Kunsthistorikern. Über dreitausend Briefe von und an den gut vernetzten Bildhauer, viele davon noch nicht bekannt, lassen auf faszinierende Einblicke in die deutsche Kunstszene auf ihrem Weg durch die Moderne hoffen.

Ebenfalls zu dem Konvolut gehört die private Korrespondenz Kolbes mit seiner Frau Benjamine bis zu deren frühem Tod 1927 sowie mit seinem Bruder Rudolf, der als Architekt in Dresden arbeitete.

Die Enkelin wanderte nach Kanada aus

„Ein so umfassender Nachlaß ist für kaum einen anderen Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt“, zeigt sich Museumsdirektorin Julia Wallner erfreut. Dabei war es keineswegs sicher, daß jener wieder nach Berlin findet. 1950 wanderte Kolbes Enkelin, geborene von Keudell, mit ihrem Ehemann, dem Marineoffizier Hans Diedrich von Tiesenhausen, nach Kanada aus. Dennoch leitete sie von 1969 bis 1978 die von Kolbe testamentarisch verfügte Umwandlung des 1928 errichteten Ateliers in ein Museum.

Jedoch galt das Verhältnis zu ihrer Nachfolgerin Ursel Berger als schwierig. Erst deren Nachfolgerin Wallner, die seit 2013 dem Museum vorsteht, konnte den kunsthistorischen Schatz nach mehreren Reisen nach Kanada für Berlin sichern. Noch zu Lebzeiten von Tiesenhausens, die im Juni 2019 neunzigjährig verstarb, wurden ein Gemälde Max Beckmanns, eine Skulptur Aristide Maillols und Kleinplastiken dem Museum übergeben. Der Gesamtumfang, darunter vierzig Druckgrafiken, zehn Skulpturen und Tausende Fotos Kolbes, wurde erst nach ihrem Ableben deutlich.

In den kommenden fünf Jahren soll das Material aufgearbeitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. „Der in Kanada gesicherte Nachlaß übersteigt das im Georg-Kolbe-Museum vorhandene schriftliche und fotografische Material und wird die Voraussetzung dafür liefern, endlich den Lebensweg des Künstlers vollständig zu dokumentieren“, verdeutlicht Wallner die anstehenden Aufgaben. Sie erhofft sich dadurch vor allem neue Kenntnisse über Künstler- und Kunstsammlerschicksale in der NS-Zeit.