© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Wisch und weg
Tinder: Die Corona-Krise stellt auch das Prozedere auf Dating-Apps auf den Kopf – oder beschleunigt es
Maximilian Schulz

Die Digitalisierung hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die Arbeitswelt radikal verändert, sondern auch die Art und Weise des menschlichen Kennenlernens. Wenn es damals der Regelfall war, Menschen auf einer abendlichen Kneipentour, in der Uni oder über Freunde und Verwandte kennenzulernen, so gewannen insbesondere in den vergangenen fünf Jahren Apps wie Tinder, Lovoo und Bumble an Bedeutung. In Zeiten von Corona, in denen zwischenmenschliche Kontakte auf ein Minimum reduziert werden sollen, erfahren Dating-Apps allerdings einen Wandel, da die „klassischen“ Treffpunkte für eine Offline-Verabredung aufgrund von Ausgangsbeschränkungen und „Social Distancing“ wegfallen.

Tinder reagierte auf diese Entwicklung und schaltete einige Elemente bisheriger zahlungspflichtiger Premium-Funktionen frei, wie zum Beispiel die Möglichkeit, weltweit anstatt nur im Umkreis des jeweiligen Aufenthaltsortes auf die Online-Suche nach ungezwungenen Bekanntschaften zu gehen. Angesichts geschlossener Restaurants und Bars, und Hunderter oder gar Tausender Kilometer Entfernung voneinander, erlebt Tinder eine kleine Revolution: viele Nutzer schreiben beziehungsweise „unterhalten“ sich ausführlich. Andere überspringen einfach das „Mal was zusammen trinken gehen“ und fragen direkt: „bei dir oder bei mir?“ Zwei Personen pro Haushalt geht ja klar.

Und bei Bumble, das neben Dating auch die Möglichkeit bietet, sich beruflich zu vernetzen, stellt sich angesichts von Homeoffice die Frage, ob anstatt der zwangspausierenden Geschäftsessen nicht eher die potentiellen „Extras“ der Business-Freundschaften in den Fokus geraten. Generell funktionieren alle drei genannten Flirt-Apps mit Hilfe des Wisch-Prinzips. Gefällt dem Nutzer jemand, wird mit dem Finger nach rechts gewischt („geswiped“). Wenn dies nicht der Fall sein sollte, nach links. Im Zuge der Jagd nach möglichst vielen „Matches“ mit attraktiven Damen fallen einem als männlicher Nutzer viele interessante Dinge an den Profilen der weiblichen Nutzer auf. Diese sind nicht nur mit teilweise äußerst freizügigen Fotos gespickt, bei denen sich gleichzeitig das ungemachte Bett im Hintergrund abzeichnet, sondern auch mit teilweise vielsagenden Beschreibungen versehen. 

So ziemlich jede Dame scheint nicht zu wissen, warum und weshalb sie eigentlich „am Tindern“ ist, und generell ist sie „neu hier“ und will „definitiv keine ONS“ (One-Night-Stands). Das Gespür des jungen Mannes, daß diese Beschreibungen nicht ganz der Wahrheit entsprechen, erweist sich dabei oft als richtig – Text-Bild-Schere 2.0. Darüber hinaus reichen die persönlichen Angaben bis zu Bekenntnissen einer attraktiven jungen Dame, die gerne Eiscreme essen geht und deren großer Wunsch es sei, ein uneheliches Kind von einem gut gebauten Schwarzafrikaner zu empfangen. 

Um derjenige Mann zu werden, welchem die Ehre gebührt, die Wünsche der Damenwelt erfüllen zu dürfen, müssen sie nicht allzu selten verschiedenste Hürden meistern, wie zum Beispiel eine Mindestgröße von 1,90 Meter, eine ausgeprägte Unterhaltungsgabe sowie das Wissen, wie man eine anständige Frau behandelt. 

Junge Menschen werden zu Geistern

Falls Man(n) nicht imstande sein sollte, diese Hürden zu nehmen, kann es durchaus vorkommen, daß urplötzlich ein Kontakt- und Kommunikationsabbruch einsetzt, ohne daß dieser sich vorher ankündigte. Dieses Phänomen wird allgemeingültig als „Ghosting“ („Vergeisterung“) bezeichnet, wird momentan durch fehlende reale Treffpunkte begünstigt und ist insbesondere in der Altersgruppe der 18- bis 29jährigen zu beobachten. Überangebot macht’s möglich. Denn anscheinend besonders betroffen sind junge Männer, welche nicht zu realisieren vermögen, daß nur etwa 20 Prozent der Nutzer weiblichen Geschlechts sind und die Match-Ausbeute dementsprechend eher gering auszufallen vermag, als dies bei jungen Frauen der Fall ist.

Zurück ins analoge Leben: Würde man an einem Freitagabend als junger heterosexueller Mann einen Club aufsuchen, in dem sich zu 80 Prozent Männer aufhalten und nur 20 Prozent Frauen, von denen jede bereits vier Verehrer hinter sich herschleift? Wohl kaum. Und zwar nicht nur aufgrund von staatlich verordneten Lokalschließungen.