© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Streben nach Autonomie
Überleben in der Corona-Krise: Kultur und Kunst, die etwas taugen, dürsten nicht nach Systemrelevanz
Thorsten Hinz

Nach mehr als einem Monat Stillstand des öffentlichen und mithin des Kulturlebens bemerken auch überzeugte Eigenbrötler und introvertierte Bücherwürmer, daß sie gesellschaftliche Wesen sind. Die DVDs der Ingmar-Bergman-Edition sind abgearbeitet; in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker haben sie einen Monat lang gratis in der ersten Reihe gesessen; die Bildbände über Florenz, Venedig und Rom haben ihr Italien-Bild wieder aufgehellt; und den Pest-und-Cholera-Erzählungen der Weltliteratur entnahmen sie die Erkenntnis, daß morgen auch noch ein Tag und trotz Corona nicht aller Tage Abend ist.

Doch auf die Dauer sind das Kulturerlebnisse aus der Konserve. Ab einem bestimmten Punkt braucht man mehr: den Enthusiasmus eines Publikums, dem man angehört; die gespannte Erwartung, wenn sich der Vorhang hebt; den Pausenplausch. Um die Gesundheit, um das nackte Leben zu schützen, ist eine kommunikative, soziale und kulturelle Regression verhängt worden, wurden Kulturtechniken und Rituale außer Kraft gesetzt: neben dem Ostergottesdienst, den Trauerfeiern, der Sterbebegleitung eben auch der Museums-, Theater- und Kinobesuch. 

Die großen, staatlich subventionierten Häuser werden die stillgestellte Zeit überleben. Beim Jazz-Café um die Ecke, dem kleinen, feinen Programm-Kino und den privaten Galerien nebenan ist das weniger sicher. Gut möglich, daß Nagelstudios oder Shisha-Bars die Räumlichkeiten demnächst übernehmen.

Es ist verständlich, wenn Künstler jetzt nach staatlicher Unterstützung rufen. Die Entscheidungen der Exekutive haben ihre Berufsfreiheit aufgehoben und ihnen die Verdienstmöglichkeit genommen. Im Netz kursieren deswegen hämische Kommentare. Mehrheitlich variieren sie die Fabel von der Grille, die sich sorglos durch den Sommer zirpt, im Winter aber bei der fleißigen Ameise schnorren geht, die beizeiten Vorräte angelegt hat. Hätten diese Künstler doch lieber etwas Ordentliches gelernt, so der implizite Lehrsatz. Doch man muß unterscheiden. Die Künstler der klassischen Fächer etwa haben eine harte Ausbildung hinter sich und führen weder sommers noch winters ein sorgloses Lotterleben.

Neben dem kleinlichen Ressentiment gibt es einen weiteren Grund für die Häme, der weniger leicht vom Tisch zu wischen ist. Er liegt ausgerechnet in der „Systemrelevanz“, die den „Kulturschaffenden“ und der „Kreativszene“ von Medien und Kulturpolitikern bescheinigt und von diesen nur zu gern aufgegriffen wird. Die Schauspielerin Katja Riemann, die in den 1990er Jahren zu den prägenden Gesichtern des „Neuen Deutschen Films“ gehörte und nun wegen stornierter  Film- und Theaterproduktionen arbeitslos ist, wird mit der Äußerung zitiert: „Es sind Künstler, die momentan die Menschen im Netz unterhalten und aufbauen. Mit Lesungen, mit Videos, mit Kunst, mit Tanz.“ Daher sei es für sie unverständlich, daß Künstler nicht zu den systemrelevanten Gruppen zählten. 

Der Begriff kam 2008 im Zuge der Bankenkrise auf. „Too big to fail“ bedeutete: Die Finanzinstitute, die sich durch riskante Geschäfte an den Rand des Abgrunds gebracht hatten, waren für das Wirtschaftssystem zu groß und zu wichtig, als daß man sie fallenlassen konnte. Sie wurden mit Steuergeld gerettet. Das Wort war fortan negativ konnotiert; mit ihm verband sich die Vorstellung einer parasitären Pseudoelite. Während der Corona-Krise hat das Wort eine Umwertung erfahren. Es bezeichnet nun jene, die die Infrastruktur des Alltags aufrechterhalten.

Zählen auch Künstler dazu? Die Reichweite der Lesungen, Tanz- und sonstigen Darbietungen im Netz dürfte sich in Grenzen halten, doch der Haupteinwand ist ein anderer: Kultur und Kunst, die etwas taugen, streben nicht nach Systemrelevanz, sondern nach Autonomie. Nach Schiller eröffnet die Kunst dem Rezipienten die Möglichkeit, seine durch Alltagspflichten zerstückelte Existenz im ästhetischen Spiel zu einem veredelten Ganzen zusammenzufügen, also für den Augenblick die Gebundenheit an die irdischen Systeme zu überwinden.

Wenn von der „Systemrelevanz“ der Kunst die Rede ist, stellt sich die Frage: Relevant für welches System? Eine Kunst, die ihren Auftrag darin sieht, die Frustrierten zu bespaßen, zu unterhalten und aufzubauen, hebt die reduzierte Existenz nicht auf, sondern ästhetisiert und rechtfertigt sie nur. Ein derart zweckgebundes Kunst- und Kulturverständnis mag im aktuellen Krisen-Moment angemessen sein, aber auf Dauer gestellt und verallgemeinert führt es direkt zum Staatskünstlertum. Kulturschaffende, die gegenüber dem Staat auf ihre Systemrelevanz pochen, tendieren aus Eigeninteresse dazu, diese durch Staats- und Systemkonformismus nachzuweisen. 

Der Nachweis kann darin bestehen, daß ein öffentlich-rechtlicher, sogenannter Satiriker eine Oppositionspolitikerin als „Nazischlampe“ abfertigt. Oder er äußert sich im Aufmarsch der Filmbranche vor dem Kanzleramt, um der Hausherrin den Dank für ihre „Willkommenskultur“ abzustatten. Katja Riemann übrigens machte ihre Systemrelevanz am Rande eines Kunstprotests der Klimabewegung „Fridays for Future“ vor dem Bundestag geltend. Außerdem setzt sie sich seit Jahren für eine großzügige („humane“) Aufnahme von Migranten ein. Der Konformismus im Gestus des Protests und der künstlerischen Kreativität ist ein Kennzeichen des bundesdeutschen Kulturbetriebs.

Dissidenten straft er systemintern ab. Dem Leipziger Maler Axel Krause, der die Masseneinwanderung „für einen großen Fehler und die AfD für ein zu begrüßendes Korrektiv im maroden Politikbetrieb“ hält, wurde 2018 von seiner Galerie gekündigt, weil sie seine politische Haltung „weder teilen noch mittragen“ wollte. 2019 wurde die Jahresausstellung Leipziger Künstler abgesagt, weil Kollegen sich weigerten, gemeinsam mit Krause auszustellen. Die Botschaft lautete: Wir Schaffenden des Kulturbetriebs dulden keinen Widerspruch gegen das „System Merkel“! Vor solchem Hintergrund erscheint eine staatliche Corona-Unterstützung wie der nachgereichte Obolus für politisches Wohlverhalten.

Gefordert wird auch ein „Nothilfecent“ für die darniederliegende Filmindustrie. Erwartbar würde er Produktionen zugute kommen, in denen weiße Männer, Nazi-Deutsche, schutzsuchende Ausländer drangsalieren und schließlich von einer taffen schwarzen Kommissarin zur Strecke gebracht werden. Solcher Primitivismus ist politisch systemrelevant, aber künstlerisch nicht erhaltenswert. 

Die Corona-Krise wäre eine gute Gelegenheit, den politisch korrekten Wildwuchs verdorren zu lassen. Doch weiß man aus Erfahrung, daß in einem Garten, der längere Zeit nicht gehegt wird, das Unkraut die Edelgewächse überwuchert. Am Ende könnte sich ausgerechnet die subventionierte Staatskunst als Gewinner der Krise erweisen.