© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Die große Hure Babylon
Kino: In der Neuverfilmung von „Berlin Alexanderplatz“ ist Franz Biberkopf ein Migrant / Beim Deutschen Filmpreis gab es dafür nur Silber
Dietmar Mehrens

Zwar zersprengte Kritikerliebling „Systemsprenger“ die Hoffnungen von „Berlin Alexanderplatz“ auf den deutschen Oscar in den Hauptkategorien. Doch als Trost blieben der Romanverfilmung bei der Verleihung des 70. Deutschen Filmpreises am 24. April in Berlin die silberne Lola und immerhin vier Auszeichnungen in Nebensparten.

Der schmerzhafte Spießrutenlauf, den der Film für Hauptfigur und Publikum gleichermaßen bedeutet, beginnt mit Menschen, die hilflos im Meer treiben. Ein Flüchtlingsschiff muß gekentert sein. Francis und Ida strampeln um ihr Leben. Ida versinkt rettungslos in den Fluten, Francis kann sich retten und strandet schließlich in der deutschen Hauptstadt. Die wird, wie in Alfred Döblins Vorlage, als Ort des Lasters gezeichnet, durch die „die große Hure Babylon“ reitet, eine Assoziation, die es bei der vielgerühmten ARD-Serie „Babylon Berlin“ sogar in den Titel schaffte. Regisseur Burhan Qurbani jedoch wollte nach eigenen Angaben ein Gegenwartsstück inszenieren. Statt das Berlin der zwanziger Jahre zu porträtieren, hat er die Irrungen und Wirrungen des Franz Biberkopf, der Hauptfigur von Döblins Großstadtmontage, in die Gegenwart verpflanzt und aus dem entlassenen Sträfling einen illegalen Einwanderer aus Guinea-Bissau gemacht. 

Die Konstellation „afrikanischer Migrant verkörpert modernen Franz Biberkopf“ löst reflexhaft den Verdacht aus, hier solle der Willkommenskultur ein filmisches Denkmal errichtet werden. Immerhin ist Qurbani selbst migrantischer Herkunft. Doch sein „Berlin Alexanderplatz“ ist anschlußfähig nach vielen Richtungen. Er dringt zwar tief – und nicht ohne Sympathie – ein in die Ghetto-Parallelwelt afrikanischer Migranten; aber er kehrt die unbequemen Wahrheiten nicht unter den Teppich: Francis kommt nicht mit weißer Weste nach Berlin, sondern mit einer kriminellen Vergangenheit. „Anständig wollte Francis sein“, wiederholt Francis’ Auserwählte, die Prostituierte Mieze (Jella Haase), die die Handlung aus dem Off kommentiert, das Roman-Leitmotiv. „Doch dem Leben hat es nicht gefallen.“ Das ist geschmeichelt. Wie sein literarisches Vorbild ist auch der schwarze Franz moralisch nicht gefestigt genug, um den Versuchungen des Fleisches und des schnellen Geldes auf Dauer zu widerstehen. Er läßt sich von dem zwischen Dämonie und Irrsinn pendelnden Rauschgifthändler Reinhold (Albrecht Schuch) für zwielichtige Geschäfte und einen Überfall auf ein Juweliergeschäft überreden, verliert durch dessen Schuld sogar einen Arm. Ausgerechnet als er sein Leben an der Seite von Mieze in den Griff zu bekommen beginnt, kommt es zur Katastrophe. 

Das Gute, das er will, das tut er nicht, aber das Böse, das er nicht will, das tut er, brachte der Apostel Paulus es auf den Punkt. Alfred Döblins Großstadtroman ist voll von biblischen Verweisen, Qurbani beläßt es bei wenigen. In fünf Kapiteln und einem Epilog schickt er seinen Francis, der später zum deutschen Franz wird, durch das Pandämonium der Berliner Halb- und Unterwelt und läßt seine Adaption schließlich so enden, wie die Vorlage beginnt.

Bodenständigen Zuschauern wird einiges abverlangt

Ästhetisch wirkt das mehr wie Avantgarde-Theater im „Volksbühnen“-Stil als Romanverfilmung. Aber gerade in ihrer sperrigen Struktur und provokanten Bildgestaltung (Lola für die beste Kamera) ist Qurbanis Version trotz der künstlerischen Eigenständigkeit eine durchaus adäquate Umsetzung des 1929 veröffentlichten Textes mit seiner bei James Joyces „Ulysses“ abgeschauten Bewußtseinsstrom-Technik.

Wer die Vorlage kennt, den kann die Umsetzung des afghanischstämmigen Regisseurs – mit vielen suggestiven Bildern, ausufernden Tableaus und abrupten szenischen Wechseln – nicht überraschen: Sie wirkt auf den bodenständigen Betrachter von heute so avantgardistisch-verquast wie Döblins expressionistisches Werk auf den bodenständigen Leser von einst. Auf den Vorabdruck in der Frankfurter Zeitung gab es, obwohl das Buch Döblins größter Erfolg wurde, durchaus empörte Reaktionen. Nicht jeder hatte Lust, Morgen für Morgen „durch diesen Dreck zu waten, in diese niedrigsten Niederungen der menschlichen Gesellschaft zu steigen, daß einem der Ekel aufstieg“, wie es eine der kritischen Stimmen ausdrückte. Ähnlich könnte das gesittete Publikum von heute über den Film urteilen, weil der Regisseur für die Darstellung von Hurerei und Unzucht, Dekadenz und Ausschweifung krasse, teilweise sogar offen pornographische Bilder wählt.

Während Hauptdarsteller Welket Bungué, der wirklich aus Guinea-Bissau stammt, zuweilen etwas gehemmt durch die Szenen geistert, liefert Albrecht Schuch als Reinhold buchstäblich eine Wahnsinnsvorstellung ab. Reinhold personifiziert die Verworfenheit und die Verrücktheit einer gottlos durch den Sündenpfuhl treibenden Kreatur, die sich selbst zum grotesken Spottbild gemacht hat. Die janusköpfige Ambivalenz, mit der er Franz ein ums andere Mal ins Verderben stürzt, ihn daraus wieder hervorholt, nur um ihn anschließend noch tiefer hineinzustoßen, spielt Schuch, als wäre mit ihm der große Götz George in einer verjüngten Ausgabe von den Toten auferstanden. Die Lola für die beste männliche Nebenrolle ist hoch verdient. Schuch hatte übrigens das Glück, auch im Lola-Abräumer „Systemsprenger“ mitzuwirken, und gewann mit seiner Trophäe für den besten Hauptdarsteller das Double.

Wie Rainer Werner Fassbinders legendärer Mehrteiler von 1980, Qurbanis Geburtsjahr, ist auch der neue „Berlin Alexanderplatz“ ein kraftvolles Epos, das seinen Zuschauern einiges abverlangt. Der Film handelt nicht nur von menschlichen Monstrositäten, er ist mit über drei Stunden Spieldauer auch selbst ein Monstrum.

Der Kinostart ist nach jetzigem Stand für den 21. Mai vorgesehen.