© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Großer Stillstand
Diagnose: Corona-Denglisch-Virus
Thomas Paulwitz

Wenn ein Engländer ins Home Office geht, dann hat er vermutlich einen Termin im Innenministerium. Wenn ein Deutscher vom Homeoffice spricht, dann arbeitet er im Heimbüro. Wir Deutsche haben es wieder einmal geschafft, einen Ausdruck zu erfinden, der in der englischen Sprache in dieser Bedeutung kaum vorkommt. Wenn ein Engländer nämlich von zu Hause aus arbeitet, dann betreibt er „working from home“.

Dieses Denglisch ist kein Einzelfall. Corona ruft auch in der deutschen Sprache Symptome hervor. Denn das Coronavirus ist mit dem Denglisch-Virus eine Symbiose eingegangen. Gerade der denglische Patient, der unter der Vorerkrankung Anglizitis leidet, ist davon besonders betroffen. Da hilft auch keine Maske. Für den Schutz, der Mund und Nase abdeckt, haben die Denglisch-Infizierten den Ausdruck „Community-Maske“ geschaffen. Wer ist die „Community“? Sie ist schlicht und einfach das Volk. Immerhin setzt sich jedoch der Ausdruck Alltagsmaske allmählich durch.

Politiker wollen Eindruck schinden

Die Beweggründe, warum Politiker denglische Bezeichnungen in Umlauf bringen, sind nach wie vor die alten: Dummheit, Imponiergehabe und Verschleierung. Sie wissen es nicht besser und sagen „Corona-Bonds“ statt Corona-Anleihen. Sie sind zu bequem und plappern „Homeschooling“ nach, statt von Heim- oder Fernunterricht zu sprechen. Sie wollen Eindruck schinden und sagen „Social Distancing“ statt Abstandhalten.

Wenn statt von „Shutdown“ oder „Lockdown“ vom „Großen Stillstand“ die Rede wäre, würden in unserem Sprachzentrum ganz andere Bilder aktiviert. Mit „Stillstand“ sind laut der Wortschatzsammlung der Universität Leipzig Wörter verknüpft wie: Zeit, Tag, Herz, Produktion, lange und obwohl. Wenn wir an einen Herzstillstand denken, haben wir einen Notarzt vor Augen, wie er einen Patienten wiederbeleben will.

Zuvor weitgehend unbekannte Wörter wie „Lockdown“ sind hingegen neutral. Sie können mit einer neuen Bedeutung aufgeladen werden, was sie für politische Entscheidungsträger attraktiv macht. „Tracking and Tracing“ hört sich harmloser an als „Verfolgen und Aufspüren“. Eine am Wohl des Volkes ausgerichtete Politik sollte es nicht nötig haben, ihm etwas vorzugaukeln.

Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der vierteljährlich erscheinenden Zeitung Deutsche Sprachwelt.

 https://deutsche-sprachwelt.de