© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Der Flaneur
Die Idylle liegt so nah
Tobias Dahlbrügge

Beim Biobauern einzukaufen ist doch der Ökotraum vieler Großstädter und unterstützt heimische Produzenten. Also worauf warten, wenn der nächste Hof nur ein paar Kilometer vor der Stadt liegt. Den ollen Rucksack auf den Buckel und los geht’s. Der lange Spaziergang wird guttun. Ein bißchen Retro-Feeling kommt auf – à la „Hamstern in der Nachkriegszeit“.

Hat man erst die Fußgängerbrücke über die laute Umgehungsstraße hinter sich gelassen, wandert man durchs Idyll. Es duftet nach Waldmeister. Um einen blühenden Obstbaum dröhnt ein Summen und Brummen wie von einem Industriegebläse. Ein ganzes Bienenvolk schwirrt aufgeregt um die Blütenpracht.

Der schöne Weg entschädigt für die Plackerei mit dem Marschgepäck.

Vom Staub des Weges sind die schwarzen Schuhe schon ganz weiß. Die Sonne scheint kräftig, ich denke an das berühmte Werbeplakat „Der durstige Mann“ der dänischen Biermarke Tuborg. Jetzt ein Helles, das wär’s. Die Muttergottes vom alten Bildstock blickt mitleidig auf mich herab. In den Hecken flöten Spatzen und Meisen, in den Buchenkronen klopft der Specht und schimpfen die Krähen. „Hier ist die Kinderstube des Wildes, halte Deinen Hund an der Leine!“ mahnt ein Plakat rechtzeitig zur Setzzeit der Rehkitze.

Ein Klinkersteinmuster im Giebel bildet die Jahreszahl 1858. Der Hofhund hat mich schon entdeckt und stürmt bellend auf mich zu. Er wirkt irgendwie enttäuscht, daß ich keine Angst zeige und verliert spontan das Interesse. Nach kurzem Palaver verschwinden Kartoffeln, Kohlrabi, Salat, Spargel und Eier im Rucksack. Jetzt fällt mir ein, daß ich das gestiegene Gewicht eines Marschgepäcks gar nicht bedacht hatte, aber das hilft jetzt auch nichts mehr.

Der schöne Weg entschädigt für die Plackerei und läßt einen völlig ausblenden, daß die Straßenmeisterei des Landes keine zwei Kilometer von hier gerade ein neues Zubringerkreuz in die verträumte Botanik klotzt. Der Flächenfraß kommt näher.