© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

„Heute ist es verdächtig, deutsch zu sein“
Der ehemalige nationalliberale FDP-Politiker und Generalbundesanwalt a.D. Alexander von Stahl über sein Kriegsende vor 75 Jahren, Widerstand und Patriotismus seiner Familie in der NS-Zeit und die historische Klitterung des 8. Mai 1945 heute
Dieter Stein / Moritz Schwarz

Herr von Stahl, wie hat man mit sieben Jahren das Kriegsende erlebt?

Alexander von Stahl: Dramatisch! Wir lebten damals in Hopsten, Westfalen und ich beobachtete am hellen Himmel die silberglänzenden amerikanischen Bomberströme weit über uns, die von Holland gen Berlin zogen. Es war gewaltig! Und obwohl sie so unendlich hoch flogen, vibrierten Boden und Fensterscheiben. Dann sahen wir deutsche Jagdmaschinen aufsteigen. Wir lagen im Gras und verfolgten, wie sie heranrasten – und der Luftkampf begann. Wir sahen Geschosse, Funken, Explosionen, Flammen und Rauch, Splitter regnen, Metall zerreißen – Maschinen, deren Rümpfe sich umwälzten, aufbäumten, trudelten, stürzten, brachen. Doch schließlich kam der Tag, an dem der Krieg nicht mehr nur über uns hinwegzog: Dröhnend erschienen plötzlich deutsche Panzer in Hopsten. Mächtige Kolosse vom Typ „Tiger“ – einer kam rasselnd ausgerechnet in unserem Garten zum Stehen! Offenbar, um hier seinen Endkampf um das Reich zu führen. Auf der anderen Seite sah ich Engländer auftauchen und mit Erschrecken, daß ein Flammenwerfer sie begleitete! Doch entkamen wir, bevor es losbrach. Dann, als alles vorbei war, Lärm, Rauch und Schreie sich längst gelegt hatten, kehrten wir zurück. Unser Haus war, was für ein Glück, unversehrt. Doch hatte sich ausgerechnet dort der Feind einquartiert – der neue englische Ortskommandant! Der allerdings nichts dagegen hatte, daß auch wir wieder bei uns einzogen. Überhaupt erwiesen sich die Engländer als ganz passabel. Obwohl sie wohl sehr viele Kameraden im Kampf um unser Dorf verloren hatten. Ich sah, wie sich die Leichen ihrer Gefallenen auf LKW-Ladeflächen häuften. 

Haben Sie Hoffnungen oder Befürchtungen mit dem Kriegsende verbunden?

Stahl: Mit sieben habe ich über Konsequenzen nicht nachgedacht. Vielmehr kindlich alles so hingenommen, wie es kam. Meine Mutter war sehr stark und zeigte mir gegenüber keine Angst – also habe auch ich keine gehabt. Ich erlebte das Kriegsende eher, als daß ich es erlitt. 

Haben Sie sich nicht wie alle mit den deutschen Soldaten identifiziert? 

Stahl: Natürlich war ich, wie in der Tat alle Jungs, militäraffin und kannte mich bestens mit der deutschen Wehrmacht aus. Doch als es vorbei war, verblaßte das schnell – und der Blick richtete sich in die Zukunft. Und dann kam auch schon nach wenigen Tagen mein Vater aus dem Kriege nach Hause. 

Wie empfanden Ihre Eltern den 8. Mai?

Stahl: Auch für sie war es das Ende einer Katastrophe und die Chance auf einen Neubeginn.

Ihr Vater stammte aus dem Baltikum. Führte das zu einer besonderen Beziehung zur deutschen Nationalität? 

Stahl: Meine Großeltern lebten mit meinem Vater und seinen beiden Schwestern in Sankt Petersburg, der damaligen Hauptstadt des Zarenreichs – die heute wieder ihren deutschen Namen führt – und damals eine starke deutsche Ober- und Bildungsschicht hatte. Mein Großvater war Mitherausgeber einer der beiden deutschsprachigen Zeitungen, des Petersburger Herold. Dennoch fühlte man sich auch als treuer russischer Staatsbürger, mein Vater sprach noch fließend Russisch. Das wurde erst durch den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution erschüttert: Meinen Großvater sperrten zunächst die Zaristen als „deutschen Spion“, dann die Bolschewisten als „Kapitalisten“ ein. Ohne das wäre mein Großvater wohl nie auf den Gedanken gekommen, die Heimat zu verlassen, und heim ins Reich zu gehen.

In Berlin war er Mitglied des großbürgerlich-konservativen Herrenklubs.

Stahl: Dort versammelten sich Angehörige der bürgerlichen Eliten zum Gedankenaustausch. Politisch vertrat man die Linie des jungkonservativen Publizisten Arthur Moeller van den Bruck. Einige hatten engen Kontakt zu Reichskanzler Franz von Papen. Mein Vater spielte also in einer relativ hohen konservativen Liga.

Warum eckte er mit seiner nationalkonservativen Gesinnung ab 1933 politisch an? 

Stahl: Als Personalverantwortlicher eines Verlagshauses bekam er den Auftrag, jüdische Mitarbeiter zu entlassen. Er weigerte sich – und wurde selbst entlassen. So kamen Jahre, in denen meine Eltern kaum etwas zu essen hatten.

Warum hat Ihr Vater sich geweigert?

Stahl: Zum einen aus Empörung über den Umgang mit diesen Menschen. Zum anderen, weil seine Mutter Jüdin war. 

Er war also nach jüdischem Gesetz Jude?

Stahl: Ich glaube ja – doch hat er sich nie so gesehen und galt auch nach NS-Definition nicht als solcher. Jedoch verkehrte er im „Café des Westens“, bekannt als Café Größenwahn, Treffpunkt der Künstler und Literaten. Er hatte jüdische Freunde, denen er ab 1933 half. So verheiratete er eine jüdische Fabrikantenwitwe mit einem asiatischen Prinzen. Kaum waren sie getraut, erhielt dieser eine Abfindung und ward nicht mehr gesehen. Sie bekam die Nationalität ihres Mannes und konnte ausreisen. Das Vermögen anderer Juden transferierte er in die Schweiz, indem er ihre Aktien unter Aufsicht eines Notars verbrannte, der bestätigte, daß sie „unglücklicherweise“ vernichtet worden waren. So daß die Schweizer Bank diese neu ausstellte. Das Geld weiterer Freunde schickte er eingerollt in den Völkischen Beobachter als Streifbandzeitung ins Ausland. Kein Zöllner kam auf die Idee, daß ausgerechnet in der Parteizeitung der NSDAP jüdisches Vermögen geschmuggelt würde!

Wie sprach man in Ihrer Familie über den Nationalsozialismus? 

Stahl: Oh, man fand ihn furchtbar – da wurde gar nicht diskutiert, das war klar! Während des „Röhmputsches“ 1934, der sich ja nicht nur gegen die SA, sondern auch gegen die konservative Opposition richtete, wurde der Bruder meiner Mutter verhaftet. Im Krieg diente mein Vater bei der Abwehr, dem Nachrichtendienst der Wehrmacht. Wegen seiner Russischkenntnisse war er „Sonderführer“, und so ließ er sich von seinen Leuten ironisch mit „Mein Sonderführer!“ anreden. 

Gab das keinen Ärger? 

Stahl: Nein, man hielt zusammen. Sein Vorgesetzter auf der Krim, Kapitänleutnant und wie er Balte, bewarf bei einem Sektgelage das Hitler-Bild der Offiziersmesse mit Tomaten und rief: „Da hast du Schwein deinen Blutorden!“ Eigentlich wäre er fällig gewesen, doch alle hielten dicht! Nur eine Ordonnanz machte Meldung. Mein Vater organisierte zwei Wehrmachtsärzte, die den Denunzianten für geisteskrank erklärten. Die Ordonnanz kam in die Klinik, wo sie den Krieg überlebte – der Herr Kaleu war gerettet.

Ihr Vater nahm auch am 20. Juli 1944 teil – allerdings ohne es zu wissen. Wie das?

Stahl: Eines Tages wurde er nach Berlin abkommandiert, was er sich zunächst gar nicht erklären konnte. Doch nach dem Attentat auf Hitler wurde ihm klar, daß Stauffenberg und der Widerstand solche Männer um sich herum zusammengezogen hatten, auf deren antinazistische Gesinnung sie sich am Tag X würden verlassen können – ohne sie zuvor eingeweiht zu haben. Letzteres hat meinen Vater gerettet. 

Der 20. Juli wurde nach dem Krieg noch lange kontrovers diskutiert.

Stahl: Ja, doch nicht bei uns. Für mich waren Stauffenberg, von Tresckow und die anderen stets das, was für andere Kinder Winnetou und Old Shatterhand waren – mutige Helden!

Ihre Eltern waren antinazistisch, Ihre Mutter Anhängerin des katholischen Zentrums. Warum haben Sie dennoch ein ausgeprägtes Nationalgefühl entwickelt?

Stahl: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Mein Vater war ein bewußter Deutscher. Und ihm war klar, daß der Nationalsozialismus nicht Ausdruck der deutschen Seele war – sondern eine Diktatur, die vor allem im Diktat von Versailles wurzelte. 

Was meinen Sie mit „bewußter Deutscher“?

Stahl: Darüber machte man sich keine Gedanken, es war normal, deutsch zu sein. Darauf, daß sich, wie heute, verdächtig macht, wer sich zu Deutschland bekennt, wäre damals keiner gekommen!

Aber Sie erlebten doch, daß ab den sechziger Jahren die Tendenz langsam wuchs, Deutschland mit dem NS gleichzusetzen?  

Stahl: Das kam mit den Achtundsechzigern. Mich aber hat Thomas Dehler, 1954 bis 1957 FDP-Vorsitzender, politisch angesprochen, der schrieb: „Es ist (meine) Überzeugung ... daß die Menschen einer Sprache, einer Kultur, einer Abstammung zusammengehören. Das nationale Bewußtsein ist für mich etwas Gewachsenes, etwas Natürliches. Allerdings ist durch (dessen) Überforderung … und durch die Entartung im Nationalsozialismus ein Rückschlag eingetreten.“ Deshalb, weil ich etwas für Deutschland und für die Demokratie tun wollte, bin ich 1961 in die FDP eingetreten, die damals noch eine achtenswerte nationale Komponente hatte.

Wieso haben Sie sich nicht dem antinationalen Trend der Jugend angeschlossen?

Stahl: Weil für mich die Frage „Wer sind wir?“ stets geklärt war: Das „wir“ waren Familie, Gemeinde, Landsmannschaft, Geschichte, Kultur, Sprache, Nation. Was Schatten wie die NS-Verbrechen selbstverständlich umfaßte. 

Angesichts der jüdischen Abstammung Ihres Vaters und der Resistenz Ihrer Eltern in der NS-Zeit hätten Sie doch im Zuge von 1968 perfekt punkten können. 

Stahl: Das kam mir nie in den Sinn. Weder habe ich jemals das Deutsche vor mir her getragen, noch hätte ich es um eines Vorteils willen verleugnet. Es war für mich selbstverständlich, zu meiner Herkunft und Identität zu stehen. Ebenso wie daraus ein Verantwortungsgefühl für mein Land abzuleiten. Ich halte das eigentlich nicht für erklärungsbedürftig, sondern für menschlich normal. 

Wie war es, zu erleben, daß ausgerechnet Ihre Familienwerte, die Widerständigkeit gegen das NS-Regime beinhalteten, mit Ausbreitung von 1968 öffentlich immer mehr zu „Nazismus“ erklärt wurden? 

Stahl: Dieser Vorwurf war schlicht dumm. Er zeigte, daß die, die ihn erhoben, weder Bildung noch Kultur hatten – aber, es stimmt, immer mehr wurden.

Nach Ihrer Zeit als Generalbundesanwalt kandidierten Sie nicht nur für den FDP-Vorsitz in Berlin, sondern setzten sich vor allem für eine nationalliberale Erneuerung Ihrer Partei ein. Warum scheiterte das?

Stahl: Ich bin heute noch sicher, daß das eine große Chance für die FDP war. Doch die war längst zu einer anderen Partei geworden. Als ich 1995 für den Landesvorsitz kandidierte, vertrat ich folgendes: „Ich bekenne mich zur Tradition der deutschen Liberalen. Vom Hambacher Fest, über die Paulskirche ... zu Einheit und Freiheit, Patriotismus und Bürgerrechten. Ich wünsche mir Deutschland als eine selbstbewußte, liberale Nation, die aus ihrer Geschichte gelernt hat und jeden Chauvinismus ablehnt!“ Dennoch galt ich, beziehungsweise unsere Positionen in der sogenannten nationalliberalen „Berliner Erklärung“, vielen in der Partei längst als inakzeptabel, „böse“ und „rechts“ – wobei letzteres für mich nie ein Schimpfwort war, aber allgemein schon als solches galt.

1995 haben Sie sich auch öffentlich gegen die historische Verengung des 8. Mai 1945 zum Tag der Befreiung gewendet.

Stahl: Ja, weil das einfach nicht der Realität entsprach, die die Deutschen, zumindest die allermeisten, an diesem Tag erlebt hatten. Deshalb war ich unter jenen, die zum 50. Jahrestag den damals vielbeachteten „Appell 8. Mai 1945 – gegen das Vergessen“ in Form einer Anzeige in der FAZ lancierten. Unterzeichnet von dreihundert namhaften Persönlichkeiten, darunter etwa die ehemaligen Bundesminister Friedrich Zimmermann, CSU, und Hans Apel, SPD – der allerdings später zurückzog. 

Warum? Weil der Appell in der Öffentlichkeit als „rechts“ gebrandmarkt wurde?

Stahl: Ja, unterstellt wurde uns etwa, wir vereinfachten. Dabei wählten wir für den Text Worte von Theodor Heuss, des vielgeachteten ersten Bundespräsidenten: „Im Grunde bleibt dieser 8. Mai die tragischste und fragwürdigste Paradoxie für jeden von uns. Warum? Weil wir erlöst und vernichtet in einem sind.“ Wir vereinfachten also keineswegs, ja traten vielmehr genau der Vereinfachung entgegen! Der Appell richtete sich ja gerade dagegen, daß die historische „Paradoxie“ immer mehr in den Hintergrund trat, und der 8. Mai einseitig zum Tag der Befreiung wurde. In Vergessenheit drohte dabei nicht nur das tatsächliche historische Erleben der Deutschen zu geraten. Sondern ebenso, daß der 8. Mai nicht nur das Ende der NS-Diktatur bedeutete, sondern auch den Beginn von Vertreibungsterror, Stalinismus und Teilung der Nation. Doch diese Fakten paßen nicht zur schon damals dominierenden Auffassung, Deutschland habe, mit allem Unheil, für das dieser Tag steht, für Krieg und Nationalsozialismus zu büßen. Und das hat für „Empörung“ gesorgt. Der aber darf man nicht nachgeben. Das bin ich meiner Familientradition schuldig. Allerdings habe ich mich vor fast sieben Jahren mit meinem 75. Geburtstag altersbedingt aus der Politik zurückgezogen.   






Alexander von Stahl, der ehemalige Generalbundesanwalt wurde 1938 in Berlin geboren. 1961 trat der Jurist der FDP bei, deren Landesvorstand er zeitweilig angehörte. Von 1970 bis 1975 war er Fraktionsgeschäftsführer im Berliner Abgeordnetenhaus, wurde dann für vierzehn Jahre zum Staatssekretär für Justiz berufen. 1990 trat er die Nachfolge Kurt Rebmanns als oberster Ankläger der Bundesrepublik Deutschland an. Seine Zeit als Generalbundesanwalt war vor allem von der Bekämpfung der Roten Armee Fraktion geprägt und endete nach dem GSG-9-Einsatz von Bad Kleinen 1993. Bereits 1979 gründete Alexander von Stahl die „Liberale Gesellschaft“ und 1995 die „Liberale Offensive“ zur nationalliberalen Erneuerung der Partei. In der Folge unterlag er nur knapp bei der Wahl des FDP-Landesvorsitzenden. Heute lebt der Rechtsanwalt in Berlin und Baden. 

Foto: Alexander von Stahl im Gespräch mit JF-Chefredakteur Dieter Stein und Moritz Schwarz: „Uns wurde unterstellt zu vereinfachen, dabei traten wir gerade der Vereinfachung entgegen ... dem einseitigen ‘Tag der Befreiung‘. (Denn) der 8. Mai bedeutete nicht nur das Ende der NS-Diktatur, sondern auch den Beginn von Vertreibungsterror, Stalinismus und Teilung der Nation“

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