© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Wie zu Kaisers Zeiten
Paul Rosen

Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Zwar ist es nur eine Petitesse im Pandemie-Geschehen, doch erscheint sie in doppelter Hinsicht ungewöhnlich: Die Bundestagsabgeordneten wollen auf Geld verzichten, indem sie die automatische, an die Lohnentwicklung des Vorjahres gekoppelte Erhöhung ihrer Diäten aussetzen. Und der für die Aussetzung erforderliche Gesetzentwurf wurde von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht – von der Linkspartei bis zur AfD. Dabei gilt doch sonst im ganzen Haus das ungeschriebene Gesetz, mit den „Schmuddelkindern“ der AfD nichts Wichtiges gemeinsam zu unternehmen. Beim „Anpassungsverfahrensaussetzungsgesetz“ geschieht jetzt eine Ausnahme. Zuletzt waren die Diäten Mitte vergangenen Jahres um 3,1 Prozent oder 303 Euro auf 10.083 Euro erhöht worden. In diesem Jahr wäre die Erhöhung ähnlich hoch ausgefallen.

Abgeordnete hatten jahrzehntelang gekämpft, um die notwendigen Einzelbeschlüsse des Bundestages zur Erhöhung der Diäten aus der Welt zu schaffen. Jeder Beschluß hatte zu wütenden Reaktionen in Presse und Öffentlichkeit geführt, wobei der Begriff „Selbstbedienungsladen“ noch zu den harmloseren Kommentaren gehörte. 1995 hatte die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) einen Versuch unternommen, die Diäten an die Entwicklung der Bezüge von Bundesrichtern zu koppeln. 

Die Aktion endete in einem Desaster, weil der sonst zu Selbstversorgungsanliegen der Abgeordneten schweigende Bundesrat der für den Süssmuth-Plan notwendigen Grundgesetz-Änderung die Zustimmung verweigerte. Es dauerte rund zwei Jahrzehnte, bis man sich im Bundestag wieder an einen  Automatismus wagte und sich sicher wähnte, daß das Bundesverfassungsgericht nicht erneut dem Parlament in die Parade fahren würde. 

Denn die höchsten Richter hatten stets betont, die Abgeordneten müßten schon selbst über die Höhe ihrer Bezüge entscheiden. Das tun sie jetzt nur noch indirekt, indem sie die Kopplung an den Lohnindex zu Beginn jeder Legislaturperiode ausdrücklich neu in Kraft setzen. Daß man die Erhöhung jetzt aussetzt und sogar die AfD ins Boot holte, zeigt die Verunsicherung im Hohen Haus.

Bis dahin hatte man wenig bis keine Hemmungen, den Politik-Betrieb mit Vorteilen zu überhäufen. Zu nächtlicher Stunde und von niemandem bemerkt, hauchte etwa der Bundestag im vergangenen Oktober sogar der „Ministerialzulage“ für alle Beschäftigten der Bundesregierung und der Bundestagsverwaltung neues Leben ein. Die Zulage aus Kaisers Zeiten soll den Beschäftigten helfen, angemessene Kleidung im Dienst zu tragen (JF 25/19). Eine Verdopplung dieser Zulage vor fast 50 Jahren hatte damals für so viel Ärger gesorgt, daß sie seitdem auf Bundesebene eingefroren und in fast allen Bundesländern abgeschafft worden war. Jetzt wurde für die Bundesbeschäftigten kräftig draufgelegt. Seit Januar bekommt etwa ein Oberamtsrat in einem Ministerium statt 181,54 Euro 275 Euro an Ministerialzulage im Monat.