© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Die Mörder sind unter uns
Mysteriöse „dritte Generation“ der links- terroristischen RAF: Fahndung intensiviert
Christian Rudolf

Das letzte der 34 Todesopfer der Rote Armee Fraktion (RAF) war der junge GSG-9-Beamte Michael Newrzella. Der fliehende Wolfgang Grams zog beim Versuch seiner Festnahme auf dem Bahnhof von Bad Kleinen (Mecklenburg) eine Pistole und ermordete den ihm Nachsetzenden mit vier Schüssen aus nächster Nähe. Der angeschossene Grams, mutmaßliches Führungsmitglied der dritten Generation von RAF-Terroristen, tötete sich anschließend selbst. Bei dem mißglückten Einsatz am 27. Juni 1993 gelang wenigstens die Festnahme seiner Komplizin Birgit Hogefeld.

 Über die Mitglieder jener dritten Generation, die, nach den Verhaftungen von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt und dem Abtauchen von zehn Komplizen in der DDR, ab 1984 mit krimineller Energie und Unterstützung durch die Stasi die Terrorbande neu aufbauten, konnte nur wenig ermittelt werden. Unter anderem die Morde am Genscher-Berater Gerold von Braunmühl (1986), am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen 1989 sowie am Präsidenten der Treuhandanstalt Detlev Karsten Rohwedder sollen auf ihr Konto gehen. Von den neun Morden zwischen 1985 und 1991, die die RAF für sich reklamierte, ist kein einziger Täter bekannt.

Schüsse auf Menschen    liegen erst fünf Jahre zurück

Die Bundesanwaltschaft geht von bis zu 20 Personen dieser letzten Generation von RAF-Tätern aus, kennt aber von nicht einmal der Hälfte die Namen. Nur die Leitungsfunktion von Grams und Hogefeld ist unstrittig. Der Verdacht auf Zugehörigkeit zur RAF-Kommandoebene gegen den 1990 in den Untergrund gegangenen Ernst-Volker Staub gründet sich auf einen Brief, der bei Hogefeld gefunden wurde. Auf ihm waren Fingerabdrücke Staubs. Er und seine Komplizen Daniela Klette und Burkhard Garweg sollen für den verheerenden Sprengstoffanschlag auf den Gefängnisneubau im hessischen Weiterstadt im März 1993 verantwortlich sein; DNS-Spuren von Klette und Staub wurden an einer Strickleiter sichergestellt. Die RAF verkündete 1998 ihre Selbstauflösung, nach den drei Flüchtigen wird als einzige aus der ehemaligen RAF noch immer mit Haftbefehl gefahndet. Die Steckbriefe des Trios hängen auf Bahnhöfen und Polizeidienststellen.

Neue Aktualität erhielt die Suche nach den Terroristen diese Woche: Das federführende LKA Niedersachsen hat Garweg, Klette und Staub auf die „Europe’s Most Wanted“-Liste von Europol setzen lassen. Von nun an sind die drei als einzige Deutsche in allen EU-Staaten zur Fahndung ausgeschrieben. Am Mittwoch stellte „Aktenzeichen XY“ deren Fälle in den Mittelpunkt der Sendung. Das Trio ist dringend verdächtig, zwischen 1999 und 2016 mindestens zwölf bewaffnete Überfälle auf Geldtransporter und Kassenräume von Supermärkten im nordwestdeutschen Raum verübt zu haben und dabei versuchten Mord begangen zu haben. Bei einem erfolglosen Überfall in Stuhr bei Bremen 2015 verfehlte ein Nahschuß den Fahrer eines Geldtransporters nur knapp.

Möglicherweise gehen jüngste Geldautomatensprengungen im Westen Deutschlands ebenfalls auf die Flüchtigen zurück. Den Verdacht erfuhr die JF aus norddeutschen Polizeikreisen.

Bekennerschreiben gibt es nicht, es scheint sich rein um brutale Beschaffungskriminalität für das Leben im Untergrund zu handeln. Darum ermittelt nur das LKA, nicht der Generalbundesanwalt. Nach dem Überfall auf einen Geldtransporter in Duisburg 1999 mit einer Millionenbeute nannte es eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft indessen eine „lebensfremde Annahme“, das Trio könne sich nun als „normale Schwerkriminelle ohne revolutionäres Ziel“ verstehen. 

Der Kreis von Unterstützern muß, wenn es ihn überhaupt gibt, winzig klein sein, denn Garweg und Staub erschienen persönlich in Autohäusern zwecks Erwerb billiger Gebrauchtwagen, so viermal in Bielefeld. Eine Arbeit, die man hätte delegieren können. Die Autos dienten später als Fluchtfahrzeuge. Wie es möglich ist, ohne geheimdienstlichen Schirm mehr als drei Jahrzehnte unerkannt zu leben, in einer Weltregion, die visuell, digital und durch Rasterfahndung in hohem Maße überwacht ist, können wohl nur die gesuchten letzten Rotarmisten erklären. Wenn sie denn gefaßt werden.

***

Stellvertretend für die Rückkehr der Haftentlassenen aus der RAF in alte Zusammenhänge kann Christian Klar stehen. Der Top-Terrorist Klar, Jahrgang 1952, ist seit Ende 2008 auf Bewährung wieder in Freiheit, nachdem die je individuelle Mindestverbüßungszeit von 26 Jahren vorüber war. Klar war 1982 gefaßt und 1985 wegen neunfachen Mordes und elffachen versuchten Mordes verurteilt worden, wobei in einem weiteren Prozeß 1992 gerichtlich die besondere Schwere seiner Schuld festgestellt wurde. In einem Fernsehinterview 2001 mit dem seinerzeitigen Freitag-Herausgeber Günter Gaus wehrte Klar Schuld und Reue mit den Worten ab: „In dem politischen Raum, vor dem Hintergrund von unserem Kampf sind das keine Begriffe.“ Er überlasse „der anderen Seite“ ihre Gefühle und respektiere die Gefühle, „aber ich mache sie mir nicht zu eigen“. Die Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich) einmal unter anderem politischen Vorzeichen. Ein Gnadengesuch Klars lehnte Bundespräsident Horst Köhler im Mai 2007 ab, nachdem er dem Terroristen noch das Privileg einer persönlichen Unterredung hatte zuteil werden lassen.

2007 äußerte Klar, hinfort „ein legales Leben führen“ zu wollen. Von der linksradikalen Szene gehätschelt, idealisiert und unterstützt, bot 2005 der damalige Intendant des Berliner Ensembles Claus Peymann dem Mehrfachmörder für die Zeit nach seiner Haftentlassung einen Ausbildungsplatz als Bühnentechniker an. Wegen des öffentlichen Wirbels darum schlug Klar das Angebot aus. Als Zeuge vor Gericht geladen, gab er 2011 zu seiner Person an, in Berlin zu leben und als „Kraftfahrer“ sein Brot zu verdienen. Die Welt berichtete, Klar teile mit einem anderen Ex-Terroristen eine WG. Dessen Name blieb unbekannt. 2016 wurde publik, daß der Linke-Politiker und Ex-Stasi-IM Die­ther Dehm Klar seit einigen Jahren als freien Mitarbeiter seines Bundestagsbüros beschäftigt sowie auch seines Verlags. Klar habe sich als Webdesigner selbständig gemacht. Es war die Stasi, die Klar, Viett und anderen aus der RAF im Frühjahr 1981 in der DDR das Handwerkszeug für professionelle Terroranschläge beibrachte, um die Bundesrepublik zu destabilisieren. Dehm gehört nach dem Politikwissenschaftler Eckhard Jesse „zu den aus dem Westen stammenden Personen, die nicht nur in enger Verbindung zum linksextremistischen Milieu stehen, sondern es auch repräsentieren“. So wurde die Netzseite eines marxistischen Hardliners, dessen Fernziel es ist, „Konzerne und Großbanken zu vergesellschaften“, zeitweise von demjenigen betreut, der 1977 den Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto ermordete und kurze Zeit später an Entführung und Ermordung des Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Hanns-Martin Schleyer, maßgeblich beteiligt war. Noch in Haft, richtete Klar 2007 eine Grußbotschaft an die Teilnehmer der Berliner Rosa-Luxemburg-Konferenz und teilte darin seine Hoffnung mit, daß jetzt die Zeit gekommen sei, „die Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden“. Ein Freitag-Interview vom Dezember desselben Jahres überliefert seine Aussage, „daß ich nicht einverstanden bin, die RAF-Geschichte als Kriminalfall zu besprechen“. 

Aussagen zu unaufgeklärten Tatumständen der RAF, wie etwa dem Schützen der Todesschüsse auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 vom Soziussitz des Suzuki-Motorrads, hat Klar nie getroffen, auch als freier Mann nicht. Steuerte er nach dem Mord an Buback ein Fluchtfahrzeug? „Ich mache keine Angaben“ – so klingt Klars betonhartes Schweigen. Um Verzeihung für seine Verbrechen hat er nie gebeten.

War es ein Zeichen später Dankbarkeit für praktische Hilfe, als er im Juni 2017 auf der Beerdigung des früheren DDR-Verteidigungsministers Heinz Keßler auftauchte? Begleitet war Klar von einer alten Bekannten, beide setzten sich in der Trauerhalle demonstrativ vorne hin und waren gut zu fotografieren: der ebenfalls vorzeitig entlassenen Eva Haule. Diese betreute Klar und andere Einsitzende aus der RAF 1982 erst in der Haft, tauchte 1984 ab und verübte dann als Mitglied der Kommandoebene der „dritten RAF-Generation“ eine Serie von Mordanschlägen, die der von 1977 in nichts nachstand. Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat kommentierte deren prominentes Erscheinen damals so: „Christian Klar und Eva Haule haben an diesem Tag noch einmal für alle sichtbar dokumentiert: ‘Wir sind gegen die BRD’“.