© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Dämpfer aus Karlsruhe
Euro-Krise: Bundesverfassungsgericht moniert EZB-Staatsanleihenkäufe / Indizien für Mandatsüberschreitung
Dirk Meyer

Gesetzeslücken lassen sich durch beständigen Gebrauch beträchtlich erweitern. Diese Erkenntnis wendet die EZB mit ihren verschiedenen Aktivitäten zur Stützung des Kreditzugangs von Krisenstaaten scheinbar sehr erfolgreich an. Doch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) setzte mit seinem Urteil vom 5. Mai einen Dämpfer: Bundesregierung und Bundestag seien aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung des Staatsanleihekaufprogramms PSPP durch die EZB hinzuwirken, urteilte der Zweite Senat unter seinem Vorsitzenden Andreas Voßkuhle (2 BvR 859/15-Rn. 1-237).

Mit Beschluß vom 4. März 2015 führte die EZB ihr PSPP-Programm als geldpolitische Maßnahme ein, um einen Anstieg der Inflationsrate auf „unter, aber nahe zwei Prozent“, den Rückgang der Realzinsen und die Stärkung der Kreditvergabe des Geschäftsbankensektors zu erreichen. Bislang wurden Staatsanleihen in Höhe von 2.292 Milliarden Euro von den nationalen Zentralbanken (90 Prozent) auf eigene Rechnung und eigenes Risiko und der EZB (zehn Prozent) aufgekauft – entsprechend etwa 41 Prozent der Bilanzsumme des Eurosystems.

Mehrere Klägergruppen – darunter der frühere CSU-Vize Peter Gauweiler, die Ex-AfD-Politiker Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel sowie die Unternehmer Jürgen Heraeus, Patrick Adenauer und Heinrich Weiss – reichten im Jahr 2015 beim BVerfG in Karlsruhe Verfassungsbeschwerden ein. Sie richteten sich vornehmlich gegen verschiedene Beschlüsse der EZB und die Mitwirkung der Deutschen Bundesbank an der Umsetzung dieser Beschlüsse. Die Kläger sahen darin eine durch den EU-Vertrag nicht gedeckte Kompetenzanmaßung der EU zu Lasten der Mitgliedstaaten, indem die EZB ihr geldpolitisches Mandat überschreitet und gegen das Verbot der monetären Finanzierung verstoßen würde (sogenannter Ultra-vires-Akt).

Da sich beim BVerfG an der Rechtmäßigkeit der Anleihekäufe selbst Zweifel regten, legte es dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im August 2017 einen Fragenkatalog vor. Der EuGH sah in seinem Urteil (Rs. C-493/17) vom 11. Dezember 2018 jedoch keinen Verstoß der Anleihekäufe gegen das Unionsrecht. Im Ergebnis sei das PSPP-Programm hinsichtlich des angestrebten Inflationsziels geeignet und erforderlich. In der Gesamtschau sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Bereits in seiner Experten-Anhörung im Juli 2019 äußerte das BVerfG Kritik an dem EuGH-Urteil (JF 33/19). Angesichts der weitreichenden Folgen der Niedrigzinspolitik etwa für die Altersvorsorge stehe das Gebot der Verhältnismäßigkeit durchaus in Frage. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle monierte generalisierend, daß der EuGH sich völlig zurücknehme, wenn es um die Klärung von Kompetenzen der EU-Organe ginge.

Staatskredite von den nationalen Zentralbanken

In dem jetzigen Urteil werden die Anleihekäufe als teilweise verfassungswidrig gesehen. So sei keine normgemäße Verhältnismäßigkeitsprüfung der Ankäufe erfolgt, die unter anderem die Sparer infolge der Niedrigzinsen erheblich geschädigt hätten. Auch würde die EZB ihre Aufgaben überschreiten, indem sie die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten verbessere, „weil sich diese zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen können“. Den von den Klägern monierten Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 Abs. 1 AEUV) sah das Gericht nicht erfüllt. Dies würde dann naheliegen, wenn die Ankäufe nicht nach dem EZB-Kapitalschlüssel getätigt werden würden.

Mit dieser Bedingung wird den Einkommensniveaus und der Bevölkerungsgröße Rechnung getragen, so daß Anleihen quasi gleichmäßig erworben werden. Dem EZB-Beschluß entgegen werden jedoch Papiere der hochverschuldeten Euro-Staaten überproportional angekauft. Nach Berechnungen meines Lehrstuhles wurden – gemessen am EZB-Kapitalanteil – prozentual übermäßig viele Staatsanleihen von den Notenbanken Italiens (10,2 Prozent), Spaniens (8,1 Prozent) und Frankreichs (5,2 Prozent) erworben, während von den Niederlanden (minus 8,1 Prozent) und Deutschland (minus 3,6 Prozent) zu wenige angekauft wurden. Dies ist ein klares ökonomisches Indiz dafür, daß eine nicht durch den währungspolitischen Auftrag der EZB gedeckte Stützung der Krisenstaaten vorliegt – das Urteil danach also in dieser Hinsicht revidiert werden müßte.

Welche Folgen wird dieses Urteil haben? Als geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat die heutige EZB-Präsidentin, Christine Lagarde, das Bundesverfassungsgericht schon 2013 indirekt davor gewarnt, die Arbeit der EZB im Kampf gegen die Staatsschuldenkrise zu blockieren. Direkt ist von dem Gerichtsentscheid allerdings nur die Bundesbank betroffen, denn ein deutsches Gericht kann der EZB als einer Institution der EU keinerlei Vorgaben machen. Als größter Spieler mit einem Anteil von 26,4 Prozent am Kapital der EZB haben Beschränkungen seitens der Bundesbank jedoch erhebliche Auswirkungen auf die Konditionen und die Durchführung laufender und zukünftiger Programme.

Ohne die Bundesbank dürfte ein gemeinsames geldpolitisches Handeln der Eurozone dahin sein und zukünftige Konflikte sehr viel deutlicher ausgetragen werden, als es bereits derzeit im Zentralbankrat der Fall ist. Aufgrund der im Regelfall einfachen Mehrheitsentscheidungen im EZB-Rat wäre die Bundesbank Außenseiter mit einer von 19 Stimmen.

Die mediterranen Hochschuldenstaaten könnten weiterhin einseitig eine quasi-monetäre Staatsfinanzierung nutzen, der Deutschland, die Niederlande, Finnland und die baltischen Staaten ausgesetzt wären. Als letzte Konsequenz bliebe nur der Austritt aus der Währungsgemeinschaft – angesichts nicht werthaltiger Target-Forderungen, einer Kapitalflucht in die neue Währung verbunden mit hohen Aufwertungserwartungen zuungunsten der Exporte ebenfalls keine einfache Lösung.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Sein neues Buch „Europäische Union und Währungsunion in der Dauerkrise“ (Springer Verlag 2019) liefert Analysen und zeigt Konzepte für einen Neuanfang auf.





Stimmen zum BVerfG-Urteil

„Wir bekräftigen den Vorrang des EU-Rechts und die Tatsache, daß die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle nationalen Gerichte bindend sind“, kommentierte der Sprecher der EU-Kommission, Eric Mamer, das Urteil. In den nächsten Tagen werde man es genauer untersuchen. Unterdessen schreibt der Göttinger Rechtswissenschaftler Alexander Thiele auf Verfassungsblog.de: „Um das Handeln der EZB für ultra vires (jenseits der Kompetenzen) erklären zu können, mußte das BVerfG zunächst die entgegenstehende und auch für das BVerfG bindende Entscheidung des EuGH beiseite schieben (...) und ebenfalls als ultra vires ansehen.“ Das sei gegenüber einem anderen Höchstgericht „nicht weniger als eine direkte Kampfansage“. Der FDP-Finanzpolitiker Frank Schäffler fühlt sich bestätigt: Genau diese Kollateralschäden, daß „die Sparer enteignet werden, daß die Lebensversicherungsnehmer um ihr Eigentum betrogen werden, daß es Vermögenspreisblasen gibt, daß der Bankensektor in Schieflage gerät, auch die gesunden Unternehmen sukzessive zu Zombie-Unternehmen werden“ seien von Kritikern immer wieder bemängelt worden. (mp)

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