© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

„Eine große geschichtliche Lüge“
Kriegsende vor 75 Jahren: Die Deutung vom alliierten „Akt der Befreiung“ hat sich längst durchgesetzt
Karlheinz Weißmann

Die Debatte darüber, ob der 8. Mai zum Feiertag und gar zum offiziellen „Tag der Befreiung“ gemacht wird, ist fürs erste erloschen. Das hat mit Corona zu tun. Aber nicht nur. Denn zum einen ist die Rede vom alliierten Triumph als Akt der „Befreiung“ schon so weit durchgesetzt, daß sie keiner staatlichen Bestätigung bedarf, zum anderen bleibt die heikle Frage, wer denn „befreit“ wurde, wenn man von der konkreten Befreiung der KZ-Insassen, Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter und politischen Häftlinge absieht.

Für Stalin und seine Erfüllungsgehilfen war die Antwort 1945 noch leicht zu geben: das deutsche Volk, minus Faschisten, Kapitalisten und Reaktionäre, die es verführt und unterdrückt hatten. Bei Kriegsende ließ die Sowjetarmee Flugblätter mit dem Satz Stalins verbreiten: „Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk und der deutsche Staat bleibt.“ Das sah man auf amerikanischer und britischer Seite anders. In der bekannten Direktive JCS 1067 vom Frühjahr 1945 hatte es ausdrücklich geheißen, Deutschland werde „nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat“. Und im Sommer 1945 ließen die amerikanischen Militärbehörden Plakate anschlagen, die Fotografien von Opfern der Konzentrationslager zeigten, dazu der Titel: „Diese Schandtaten: Eure Schuld!“

Intellektuelle beugten sich dem Urteil der Sieger 

Es ist heute verpönt, auf diese „Schock-Politik“ (Eugen Kogon) und den damit verbundenen Vorwurf der Kollektivschuld gegen die Deutschen hinzuweisen. Etablierte Historiker betonen, daß es sich um einen „Popanz“ (Norbert Frei) handele. In keinem einzigen Dokument der Sieger trete der Begriff Kollektivschuld auf. Was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß den Nachkriegsplänen der Alliierten, der Art ihres militärischen Vorgehens sowie den Methoden der Okkupation abzulesen war, daß sie die Deutschen als Verbrechervolk betrachteten. Wie sonst wollte man Terrorbombardement, Massenvertreibung (unter billigender Inkaufnahme der Massentötung), Nichtbeachtung der Genfer Konvention, dauerhafte Besetzung und Annexion großer Gebietsteile rechtfertigen?

Bleibt noch festzustellen, daß diese Linie längst festgelegt war, als man die Greuel der Lager entdeckte. Sie boten nur ein zusätzliches Argument für die Härte der ergriffenen Maßnahmen, die sich gegen eine Nation richteten, die, wenn nicht durch ihre Taten, dann durch ihr Schweigen schuldig geworden war.

Die Wirkung solcher Anklagen blieb in der Zusammenbruchsgesellschaft des Jahres 1945 allerdings begrenzt. Die meisten Menschen hatten genug mit dem täglichen Überlebenskampf zu tun und viele witterten im Vorwurf der Sieger Selbstgerechtigkeit und Messen mit zweierlei Maß. Nur in der geistigen Führungsschicht gab es Bereitschaft, sich dem Urteil der Sieger zu beugen. Die Überlegungen des Philosophen Karl Jaspers, aber mehr noch die Stuttgarter Erklärung der Evangelischen Kirche lösten unter Gebildeten breite Diskussionen aus. Die Versuche, zwischen Schuld in einem metaphysischen und Schuld in einem justitiablen Sinn zu unterscheiden, ließen allerdings die Machtdimension der alliierten Anklage regelmäßig außer acht. „Die ‘Welt’“, schrieb damals der katholische Publizist Franz Josef Schöningh, nehme die deutsche Bereitschaft, Schuld anzuerkennen, aber „nicht auf der religiösen, sondern auf der politisch-juristischen Ebene entgegen“. Von dem Zusammenhang zwischen Beichte, Buße, Vergebung und Erlösung im christlichen Sinn sei keine Rede, vielmehr fahre man fort, „statt ein Kalb für den verlorenen Sohn zu schlachten, über Reparationen zu sprechen“.

Eine Nation existiert nur, insofern sie schuldig ist

Es wäre Zeit, sich dieser Einsicht heute zu erinnern, wenn darüber gesprochen wird, daß „wir“, „im Land der Täter“ oder als „Nachkommen der Täter“ oder doch wieder „als Deutsche“, eine besondere Verantwortung tragen, damit das Furchtbare „nicht noch einmal“ geschieht. Denn dahinter steht letztlich, daß unsere Nation ausgezeichnet ist, aber ausgezeichnet im negativen Sinn: durch die gemeinsame Schuld. Ein Gedanke, dessen Gefährlichkeit selbst Jaspers vor Augen stand, der auf die fatale Symmetrie dieser Vorstellung mit der von den Juden als Pariavolk hinwies, dem auf ewig die Tötung Christi vorgeworfen wurde. 

Jaspers Sorge teilten Männer, die wie er zu den Gegnern des Regimes gehört hatten. Etwa der Sozialdemokrat Kurt Schumacher, der mahnte, daß mit „dem Worte von der Gesamtschuld (…) eine große geschichtliche Lüge“ in die Welt gesetzt werde, und der Christdemokrat Konrad Adenauer, der ein „Schuldbekenntnis des gesamten deutschen Volkes“ ablehnte, weil das nicht nur den Unterschied zwischen tatsächlich Schuldigen und Nichtschuldigen verwische, sondern auch eine Demütigung bedeute, die zu unkalkulierbaren Reaktionen führen konnte.

Als letzter in dieser Reihe sei der Historiker Gerhard Ritter erwähnt. Während der NS-Zeit war Ritter Mitglied des oppositionellen „Freiburger Kreises“, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er im KZ Ravensbrück, dann im Berliner Gestapogefängnis Lehrter Straße festgesetzt und entkam nur durch das Kriegsende Todesurteil und Hinrichtung. Trotzdem hat Ritter in einer Rede vor dem Bundestag von dem widerwärtigen Eindruck gesprochen, den die „Befreiungsfeiern“ der DDR hinterließen. Dankbar war er für das Ende der „Hitlertyrannei“, betrachtete aber „den 8. Mai 1945 als einen der schwärzesten Tage deutscher Geschichte, weil sich an ihm die furchtbarste aller Katastrophe unserer an Katastrophen wahrlich überreichen Vergangenheit vollendete“.