© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Dem Geschwätz verweigern
Protestantismus: Zum 70. Geburtstag des Theologen und Publizisten Helmut Matthies
Gernot Facius

Vor genau 44 Jahren machte ein 240-Seiten-Bändchen mit dem Titel „Rotbuch Kirche“ Furore. Der Mitherausgeber, ein 26jähriger Student der Theologie, geboren im niedersächsischen Dungelbeck bei Peine, zeichnete darin akribisch nach, wie sich der deutsche Protestantismus von linken Ideologen beeinflussen ließ; vor allem geißelte er den „theologischen Neomarxismus“ evangelischer Studentengemeinden. In den EKD-Kanzleien reagierte man darauf mit Schnappatmung. In der Zeit zog der Theologe und Publizist Eberhard Stammler gegen „törichte Thesen“ und „Fehlurteile“ vom Leder, ohne sein harsches Urteil hinreichend begründen zu können. 

Es war freilich nicht das einzige Mal, daß sich Helmut Matthies – um ihn handelte es sich bei dem kritisierten „Rotbuch“-Autor – heftiger Angriffe erwehren mußte. Als er, seit 1982 Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, im Oktober 1989 in dem von ihm geleiteten Wochenmagazin ideaSpektrum einen Kommentar mit der Schlagzeile „Wiedervereinigung – was sonst?“ veröffentlichte, tadelte ihn sein Kirchenpräsident: Eine solche Ansicht sei rechtsradikal, gar friedensgefährdend.

Vier Tage vor dem Mauerfall, zu Beginn der EKD-Synode im idyllischen Bad Krozingen, mußte sich Matthies vom Ratsvorsitzenden Martin Kruse anhören: „Hören Sie endlich auf, von der Wiedervereinigung zu schreiben, sie ist völlig unrealistisch. Idea kennt die Situation im Osten nicht.“ Dieser Vorwurf  war natürlich völlig daneben, denn der idea-Chef war mit der mitteldeutschen Kirchenszene besser vertraut als mancher der EKD-Oberen. 153 Zeilen ihres zentralen Rechenschaftsberichts zur Synode waren der Situation in Südafrika gewidmet, 26 der Lage in der DDR – obwohl die „Wende“ vor der Tür stand

Allergisch gegen Extreme aus jeder Richtung

Drei Jahrzennte später wird Matthies, seit 2018 Geschäftsführer des Vereins „Glaube, Mut und Freiheit – Christen in der DDR und danach“, in seinem Buch „Gott kann auch anders“ an diese peinlichen Stunden erinnern: „Keiner wagte, das Wort Wiedervereinigung oder freie Wahlen auch nur auszusprechen, während gleichzeitig in allen Zeitungen davon zu lesen war. Ich habe in den 40 Jahren, in denen ich als idea-Redakteur die Synoden der EKD begleitete, nie sonst derart das Gefühl gehabt, in einer anderen Welt zu leben.“ Erst am 10. November wirkte die Synode „wie umgewandelt“ (Matthies).

Doch die Freude des idea-Leiters währte nicht lange, denn seine Kirche zeigte sich in der Wiedervereinigungsfrage wie gelähmt. Und sie versuchte noch Jahre danach, ihr Zögern (oder genauer: Versagen) zu kaschieren. Wiedervereinigung war ein Tabuwort. In den 1970er und 1980er Jahren hatte idea in so gut wie jedem Interview mit einem Kirchenleiter die Frage nach der Beendigung der deutschen Teilung gestellt. Es war, erinnerte sich Matthies, bei Bischöfen im Westen so, „als ob man nach etwas Unerhörtem, etwa nach Ehebruch geforscht hätte“. Nur ein einziger Landesbischof habe das Ende der Spaltung für realistisch gehalten: Hans von Keler in Württemberg. Muß man sich da noch wundern, daß ein Pfarrer und evangelischer Publizist wie der heutige idea-Vorsitzende immer wieder Anfeindungen ausgesetzt war? Als er 2009 von der Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung in Kooperation mit der JUNGEN FREIHEIT mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis ausgezeichnet wurde, suchte ein Bildungsdezernent der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland ihn in die rechtsradikale Ecke zu stellen. Diese Polemik traf einen Mann, der allergisch gegen Extreme jeglicher Richtung auftritt und den man nicht so leicht in eine der politischen Schubladen stecken kann. Zu recht bezeichnete Löwenthals Witwe die Vorwürfe gegen Matthies als „infam“, der katholische Philosoph Robert Spaeman fand sie „empörend“.

Helmut Matthies ist ein entschiedener, bibeltreuer Christ, und Christen dieser Art werden oft schnell als „fundamentalistisch“ abgestempelt. Er hat unter anderem bei Professor Helmut Thielicke in Hamburg studiert, war dessen studentischer Mitarbeiter, und er ließ sich auch in seiner publizistischen Arbeit von Thielickes Aufforderung leiten, „sich auf jeden Fall dem Geschwätz zu verweigern“. Diesen Grundsatz praktizierend, gelang es Matthies, die kleine Nachrichtenagentur idea zu einer unverwechselbaren Stimme im deutschen Protestantismus zu machen und damit das Monopol der reichlich mit Kirchensteuermitteln gefütterten, aber nach links abdriftenden Konkurrenz epd zu brechen. „Das Wort der Bibel ist nicht verhandelbar“ – davon zeigt er sich überzeugt.

Für eine Erneuerung der Volkskirche

Daß Matthies sich damit nicht nur Freunde machte, ist verständlich. 2017 kürzte die Synode die finanzielle Unterstützung für idea in Höhe von 132.000 Euro pro Jahr, von diesem Jahr an wurde sie ganz gestrichen. Vermutlich hängt das auch mit der dezidiert islamkritischen Haltung von idea zusammen.  

Matthies ist freilich mutig genug, die Krise der EKD nicht nur mit der theologischen Schwäche ihres Führungspersonals zu begründen. Er gibt den Konservativen und Evangelikalen eine Mitschuld an der Misere, verweist auf interne Streitereien und kommt zu dem Urteil: „Es gibt auch zur Zeit niemanden, der sie einen könnte. Von daher werden sie nicht so ernst genommen, wie es angesichts ihrer Größe und ihres treuen Engagements in den Gemeinden vor Ort angemessen wäre.“ In Kirchenleitungen sind die „Frommen“ kaum oder gar nicht vertreten.

Hat der idea-Vorsitzende konkrete Vorschläge für eine Erneuerung der Volkskirche? Ja, sagt er: Die ganze Kirche müsse sich auf Mission umstellen; der Rat der EKD sollte jedes Jahr einen Bericht zur Lage der „Christianisierung“ in Deutschland vorstellen; von jeder Kirchenleitung könne erwartet werden, daß sie Rechenschaft ablegt über die Ursachen der Kirchenaustritte. „Man hat sich (aber) offensichtlich daran gewöhnt, daß es zahlenmäßig immer weiter bergab geht.“ Und so wird auch sein Ruf nach einer Reform des Kirchensteuersystems verhallen, ebenso wie das Plädoyer, den Zugang zum Pfarramt nur solchen Theologen zu eröffnen, die überzeugend darlegen können, daß sie nicht nur formal den kirchlichen Bekenntnissen zustimmen: „So wie kein bekennender Vegetarier Marketingchef einer Bratwurstfabrik werden könnte, sollte auch niemand als Pastor wirken, der heilsentscheidende Inhalte des Glaubens an Christus leugnet“, schreibt er in seinem Buch „Gott kann auch anders“.

Helmut Matthies, Zeitzeuge und mutiger Kommentator der Zerfallsprozesse in seiner Kirche sowie Brückenbauer zwischen den verschiedenen protestantischen Strömungen, wird am 7. Mai in seiner Wahlheimat Brandenburg (Havel) 70 Jahre alt. 

Helmut Matthies: Gott kann auch anders. Und was ich sonst noch erfahren habe. Fontis Verlag, Lüdenscheid 2019, broschiert, 208 Seiten, 18 Euro