© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Das unvermeidbare Ende
Vor 75 Jahren: Die zweifache Kapitulation in Reims und Karlshorst beendete den Zweiten Weltkrieg
Egon W. Scherer

Am Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa stand nach dem Willen der Sieger die bedingungslose Kapitulation der Besiegten, „Unconditional surrender“. Eine Forderung, die zweifellos den Krieg verlängert hat, zumal ihr die Prämisse Hitlers entgegenstand: „Wir kapitulieren nie.“ Nachdem der Diktator am 30. April 1945 den Freitod gewählt hatte, kapitulierte die Wehrmacht allerdings sehr schnell, da ihr gar nichts anderes übrigblieb, wenn sie nicht „bis zum letzten Mann“ kämpfen wollte. Zu diesem Zeitpunkt war das deutsche Herrschaftsgebiet dramatisch zusammengeschmolzen, nachdem sich die von Ost und West vordringenden alliierten Gegener schon in der Mitte Deutschlands getroffen und das Reich in zwei Teile gespalten hatten.

Der von Hitler zum letzten Staatsoberhaupt Deutschlands ernannte Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, hatte in dieser ausweglosen Lage nur das Ziel, den längst verlorenen Krieg unverzüglich zu beenden, war aber dabei bemüht, zunächst nur Teilkapitulationen und einen Separatfrieden gegenüber den Westmächten zu erreichen, um noch Abertausenden deutscher Soldaten an der Ostfront und Strömen von Flüchtlingen den Übertritt hinter die westlichen Linien zu ermöglichen und sie so vor den Sowjets zu retten.

Eingeleitet wurden diese Teilkapitulationen schon mit der Waffenstreckung der in Norditalien stehenden Heeresgruppe Südwest unter Generaloberst Heinrich von Vietinghof-Scheel, die im Einvernehmen mit dem höchsten SS- und Polizeiführer in Italien, Karl Wolff, bereits am 29. April 1945 insgeheim mit dem alliierten Oberkommando unter dem britischen Feldmarschall Lord Alexander in Caserta ausgehandelt worden war und am 2. Mai in Kraft trat. Immerhin war diese Kapitulation von rund 800.000 Soldaten, darunter auch vier Divisionen der faschistischen Armee Mussolinis, auch vom Oberbefehlshaber Süd, Feldmarschall Albert Kesselring, gedeckt worden und paßte letztlich auch in das Konzept von Karl Dönitz.

Ebenfalls am 2. Mai kapitulierte auch der Kampfkommandant von Berlin, General Helmuth Weidling, mit den Resten der Verteidiger der Reichshauptstadt. Es folgte am 4. Mai 1945 die Kapitulation der in Süddeutschland stehenden Heeresgruppe G unter General Friedrich Schulz in Haar bei München. Die Heeresgruppe, die praktisch den Südteil der Westfront bildete, war so zerschlagen, daß sie nur noch über 120 Geschütze und 40 Panzer verfügte. 

Möglichst viele wollten in westalliierte Gefangenschaft  

Bedeutsamer noch im Sinne von Großadmiral Dönitz, der sein Hauptquartier inzwischen nach Flensburg-Mürwik verlegt hatte, war die an eben diesem 4. Mai mit den Engländern vereinbarte Waffenstreckung aller deutschen Verbände in Holland, Nordwestdeutschland und Dänemark. Generaladmiral Hans-Gorg von Friedeburg, der neuernannte Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, den Dönitz nach Lüneburg ins Hauptquartier des britischen Oberbefehlshabers der 21. Heeresgruppe, Feldmarschall Bernard Montgomery, entsandt hatte, erreichte die Zusage, daß zwar nicht geschlossene Großverbände der aus Osten zurückgehenden Wehrmacht, wohl aber einzelne Trupps über die Elbe auf englisch besetztes Territorium ausweichen konnten. Damit war die Möglichkeit gegeben, die Reste der zerschlagenen „Heeresgruppe Weichsel“ sowie der 12. Armee des Generals Walther Wenck vor sowjetischer Kriegsgefangenschaft zu bewahren.

Einen Tag später, am 5. Mai 1945, flog Dönitz’ Beauftragter Friedeburg ins alliierte Hauptquartier im französischen Reims, um mit dem Oberbefehlshaber General Dwight D. Eisenhower eine Teilkapitulation für die gesamte Westfront zu vereinbaren. Doch Eisenhower beharrte auf der Gesamtkapitulation der deutschen Streitkräfte an allen Fronten.

Tags darauf, am 6. Mai, traf Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), in Reims ein und erbat von Eisenhower eine viertägige Frist, um das Abfließen der Ostverbände in den von Briten und Amerikanern besetzten Raum zu ermöglichen. Eisenhower bewilligte nur zwei Tage und drohte damit, die amerikanische Front völlig zu schließen und weitere Luftangriffe anzusetzen, ohne auf die Abmachungen mit den Engländern Rücksicht zu nehmen. Daraufhin unterschrieb Jodl am 7. Mai um 2:41 Uhr morgens die Gesamtkapitulation der Wehrmacht, die am 8. Mai um 23:01 Uhr mitteleuropäischer Zeit beziehungsweise am 9. Mai um 0:01 Uhr deutscher Sommerzeit in Kraft treten sollte. In der Frist zwischen Unterzeichnung und Inkrafttreten ruhten zwar schon die Waffen, waren aber noch Bewegungen der deutschen Truppen möglich, die natürlich alle in Richtung Westen zielten.

Obwohl in Reims der sowjetische General Iwan Susloparow die Gesamtkapitulation mitunterzeichnet hatte, beharrte Stalin auf einer Wiederholung des Kapitulationsaktes auf sozusagen sowjetischem „Hoheitsgebiet“ in der deutschen, von russischen Truppen eroberten Reichshauptstadt. Moskau glaubte schon deshalb einen Anspruch auf diese Zeremonie der Unterwerfung in seinem Machtbereich zu haben, weil die Sowjetunion schließlich die Hauptlast des Krieges getragen habe. Und so setzte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, in Begleitung von Generaladmiral Hans Georg von Friedeburg (Kriegsmarine) und Generaloberst der Flieger Hans-Jürgen Stumpff (Luftwaffe) im sowjetischen Hauptquartier des Berlin-Eroberers Marschall Georgi Schukow in Berlin-Karlshorst am 9. Mai 1945 um 0:16 Uhr deutscher Sommerzeit, da war es nach mitteleuropäischer Zeit noch 8. Mai, seine Unterschrift unter die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht.

Wehrmacht besetzte noch Kanalinseln und Rhodos

Von der Gesamtkapitulation betroffen waren noch Millionen deutscher Soldaten. Der Oberbefehlshaber Nordwest, Feldmarschall Ernst Busch, war in Norddeutschland, Holland und Dänemark nach der Teilkapitulation mit rund 750.000 Mann in Gefangenschaft gegangen. Zudem hielt die Wehrmacht mit noch 250.000 Soldaten Norwegen besetzt. Im Süden und Südosten zählte allein die in Böhmen und Mähren stehende Heeresgruppe Mitte unter Feldmarschall Ferdinand Schörner 1,2 Millionen Mann, stand die Heeresgruppe Süd unter Generaloberst Lothar Rendulic mit rund 800.000 Mann in Österreich und brachte es die Heeresgruppe Südost unter Generaloberst Alexander Löhr in Jugoslawien auf noch rund 400.000 Mann.

Mit rund 800.000 Mann hatte schon am 2. Mai die Heeresgruppe Südwest in Norditalien kapituliert. Weit im Osten harrte die über 200.000 Mann starke Heeresgruppe Kurland unter Generaloberst Carl Hilpert im Baltikum aus und mußte sich nun den Sowjets ergeben. In Stärke von etwa 150.000 Mann deckte die „Armee Ostpreußen“ des Generals Dietrich von Saucken auf der Halbinsel Hela den Abtransport von Flüchtlingen durch die Kriegsmarine. Die war überhaupt bemüht, auf Befehl des Großadmirals mit ihren Schiffen an Soldaten und Flüchtlingen vor dem Ansturm der Sowjets zu retten, was zu retten war, wobei es bekanntlich zu schrecklichen Schiffskatastrophen kam. 

Deutsche Truppen hielten aber auch noch die zu Festungen erklärten Städte Lorient, La Rochelle, Saint-Nazaire und Dünkirchen an der französischen Atlantik- und Kanalküste besetzt, letzte Reste des „Atlantikwalls“. Selbst die britischen Kanal-Inseln Jersey und Guernsey hatten noch immer deutsche Besatzung, und deutsche Soldaten standen schließlich auch noch auf den weit entfernt liegenden griechischen Inseln Kreta, Rhodos und Milos. Die bei ihrer Verteidigung total zerstörte „Festung Breslau“ hinter der sowjetischen Front in Schlesien hatte am 6. Mai 1945, knapp vor der Gesamtkapitulation, den Kampf eingestellt. 

Nach fast sechsjährigem Kampf, in dessen Verlauf sie vom ruhmreichen Sieger zum vernichtend geschlagenen Verlierer geworden war, legte die Wehrmacht, aufgesplittert in Kessel, Igelstellungen und Stützpunktbesatzungen, die Waffen aus der Hand. Die letzten Sätze im letzten Wehrmachtsbericht vom 9. Mai 1945 lauteten: „Die Wehrmacht gedenkt in dieser Stunde ihrer vor dem Feinde gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland.“