© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Bundespräsident Steinmeier und der 8. Mai
Nicht-Erwartung voll erfüllt
Thorsten Hinz

Von einer Ansprache des amtierenden Bundespräsidenten ist Inspirierendes oder Erhellendes nicht zu erwarten. Mit seiner Rede zum 8. Mai vor der Neuen Wache in Berlin, die umständehalber erfreulich kurz war, hat Frank-Walter Steinmeier die in ihn gesetzte Nicht-Erwartung voll erfüllt. Er nutzte sie, um einen Rosenkranz aus Platitüden, Klischees und Leerformeln herzubeten.

Der verabsolutierte „Tag der Befreiung“ – geschenkt. Er sprach von „deutschen Verbrechen“. Kein fremdes Staatsoberhaupt käme auf die Idee, von amerikanischen, englischen oder anderen National-Verbrechen zu reden.

Auch die Deportationen und Massenmorde unter Stalin werden korrekterweise als „stalinistische“ Verbrechen klassifiziert, also einem terroristischen System zugerechnet, und nicht durch einen syntaktischen Kniff zum Wesensmerkmal der russischen Nation erklärt.

„Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.“ Das Problem ist heute weniger „unsere Geschichte“, sondern der verengte geschichtliche Horizont, der nur bis 1933/45 reicht. Ein unverstellter Blick auf die Vergangenheit und Gegenwart und rationale Zukunftskalkulationen werden damit unmöglich. Steinmeier spricht die Amtssprache der Bundesrepublik. Für ein deutsches Staatsoberhaupt ist das ist zu wenig.