© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Der Konsens wird aufgekündigt
Corona-Krise: Landesweit demonstrieren Tausende gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens
Felix Krautkrämer / Christian Vollradt

Es ist eine Binsenweisheit, jedoch wegen ihres Urhebers läßt sie aufhorchen: Nicht jede Regierungs- oder Wissenschaftskritik sei gleich eine Verschwörungstheorie, mahnte jüngst der Chefredakteur des ARD-Politmagazins Georg Restle. In der Tat machten es sich die Kritiker der Kritiker des „Lockdown“ zu einfach, wenn sie besonders bizarre Äußerungen oder Protagonsten aus einem sehr heterogenen Personenkreis herausgriffen und zum typischen Beispiel deklarierten. Einen cholerischen Autor veganer Kochbücher vor dem Reichstag, rechtsgerichtete Hooligans einträchtig mit arabischstämmigen Jungmännern auf dem Alexanderplatz oder tanzende, in wallende Kleider gehüllte Spät-Hippies in München. Keine Frage, auch diese Leute waren und sind Teil einer mutmaßlich wachsenden Protestbewegung. Und ja, es gab Ende vergangener Woche auch erneut einen Übergriff auf ein Kamerateam in Berlin sowie auf Polizisten. Zudem verstießen zahlreiche Demonstranten gegen die Auflagen zum Gesundheitsschutz. 

Aber dann waren unter den Tausenden auch Leute aus dem bürgerlichen Mittelstand, die schlicht aus Angst um ihre pure wirtschaftliche Existenz auf die Straße gingen – ob in der Hauptstadt, in Stuttgart oder Gera. Sie sind kein vereinzeltes Phänomen. Etwa 2,6 Prozent der Deutschen, also rund 2,1 Millionen Bürger fürchten sich vor existenzbedrohenden finanziellen Verlusten, ergab eine Umfrage im Auftrag der Postbank. Vor allem die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen und der Schließung vieler Betriebe würden die Betroffenen an den Rand des Ruins bringen, berichtete die Welt am Sonntag unter Berufung auf die Umfrageergebnisse. Weitere 4,2 Prozent oder 3,5 Millionen Deutsche verzeichneten demnach erhebliche finanzielle Einbußen, etwa durch den Bezug von Kurzabeitergeld.

Einen prominenten Fürsprecher haben die bürgerlichen Kritiker der „Lockdown“-Maßnahmen auch in Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki. Er sprach in der Weltwoche von einer „harten Polarisierung“, die in der Gesellschaft zu spüren sei. Eine Vielzahl der „massiven Freiheitseinschränkungen“ sei nicht begründet und müsse deshalb „aus verfassungsrechtlicher Sicht ein Ende nehmen“. Es sei die Pflicht der Regierung, „so schnell wie möglich“ den Normalzustand wiederherzustellen. „Bürger sollen ihre Rechte wahrnehmen können, statt darum betteln zu müssen.“

Innenministerium geht      gegen einen Beamten vor

Auch die AfD macht sich zum Anwalt derer, die ein sofortiges Ende des „Shutdowns“ fordern – „sofern Mindestabstand und Hygienevorschriften jederzeit gewährleistet werden können“, wie es in einem neuen Postitionspapier heißt. Vor allem die geplanten „Corona-Apps“ lehnt die Bundestagsfraktion „als Grundstein für die Überwachung der Bürger“ ab. Der Furor des bayerischen AfD-Abgeordneten Hansjörg Müller gegen die „menschenverachtende Verschwörung von Gates und anderen, welche in der Praxis belegt betrieben“ werde, geht vielen seiner Kollegen zu weit. Auf eine der zahllosen Mails Müllers antwortete ein anderer Abgeordneter nur knapp: „Mit Verschwörungstheoretikern rede ich nicht.“ Für die Bundesregierung betonte ihr Sprecher, die zahlreichen Proteste seien „selbstverständlich im Rahmen unserer Gesetze erlaubt und legitim“. Allerdings könne man von einigen tausend Demonstranten „unmöglich das Verhalten und die Überzeugung von 83 Millionen Menschen in Deutschland hochrechnen“, meinte Steffen Seibert am Montag.

Das Bundesinnenministerium (BMI) hat unterdessen die Kritik eines Mitarbeiters des Referats „KM 4: Schutz Kritischer Infrastrukturen“ am Corona-Krisenmanagement der Regierung („Fehlalarm“) als dessen Privatmeinung zurückgewiesen. Man habe es „mit dem bemerkenswerten Vorgang zu tun, daß ein Mitarbeiter unseres Hauses seine private Auffassung zu den Maßnahmen, die die Bundesregierung ergriffen hat, veröffentlicht oder zumindest verbreitet hat“, so der Ministeriumssprecher. Optisch habe das an den Verteiler „Arbeitsgruppe der Koordinierungsstelle Kritische Infrastrukturen“ mit dem Betreff „Ergebnisse der internen Evaluation des Corona-Krisenmanagements“ gerichtete Schreiben den Anschein erweckt, „es sei eine institutionelle oder offizielle Meinung des Hauses, was aber in diesem Fall nicht gegeben ist.“ Der Betreffende sei „von der Erfüllung seiner Dienstpflichten entbunden worden“. 

Die 80seitige Auswertung samt einem rund hundert Seiten umfassenden Anlagenband kursiert seit Wochenbeginn in zahlreichen Foren im Internet und liegt der JUNGEN FREIHEIT vor. Die Formulierung „Fehlalarm“ kommt in der Analyse gleich mehrfach vor. So heißt es: „Die beobachtbaren Wirkungen und Auswirkungen von Covid-19 lassen keine ausreichende Evidenz dafür erkennen, daß es sich – bezogen auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesamtgesellschaft – um mehr als um einen Fehlalarm handelt.“ Der Bundesregierung stellt der Referent in der Corona-Krise ein denkbar schlechtes Zeugnis aus: „Die Defizite und Fehlleistungen im Krisenmanagement haben in der Konsequenz zu einer Vermittlung von nicht stichhaltigen Informationen geführt und damit eine Desinformation der Bevölkerung ausgelöst. (Ein Vorwurf könnte lauten: Der Staat hat sich in der Corona-Krise als einer der größten Fake-News-Produzenten erwiesen.)“

Der Verfasser ist Oberregierungsrat, also in der Hierarchie des Ministeriums nicht allzu hoch angesiedelt. Des weiteren gehört (oder zumindest: gehörte) er seit 30 Jahren der SPD an, was im CSU-geführten BMI nicht unbedingt hilfreich ist. 2018 hatte der Endfünfziger sogar versucht, auf dem Sonderparteitag als „Kandidat der Basis“ für den SPD-Vorsitz zu kandidieren, jedoch nicht genügend Unterstützer gewinnen können. Immerhin damals sollte er mit einer Analyse ziemlich recht behalten: Nahles sei ein „Sargnagel“ für die SPD, sie werde „den Erneuerungsprozeß vor die Wand fahren“, so seine damalige Prophezeiung. „Das wird sehr schnell gehen. Und das ist auch gut. Denn dann sind wir sie los.“ Das ging dann in der Tat ziemlich schnell.