© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Druiden und Medizinmänner
Freiheitsrechte: Was wir in der Corona-Krise von Asterix und „Herr der Fliegen“ lernen können
Dietmar Mehrens

Ein Schreckgespenst geht um. Es ist gesichtslos, ungreifbar, unheimlich. Es verbreitet Angst, ja Panik. Und es schart Menschen um sich, die es mit atavistischen Ritualen zu bannen trachten. Nein, die Rede ist nicht vom Coronavirus, sondern vom „Herrn der Fliegen“, dem 1954 erschienenen Roman von William Golding, der die Bildung einer urzeitlichen Stammesgesellschaft und die Mechanismen, die darin zur Entfaltung kommen, am Beispiel einer Gruppe von Kindern simuliert, die es auf eine einsame Insel verschlagen hat.

In der packenden Parabel zeigt der Nobelpreisträger, wie in menschlichen Gesellschaften gesunder Menschenverstand gegen irrationale Destruktivkräfte unterliegt: Als sich das Gerücht verbreitet, auf der Insel gebe es ein Ungeheuer, verabschiedet sich erst das logische Denken, dann der Wille zu zivilisierten Umgangsformen. Der gemeinsame Glaube an das Untier mündet in einen archaischen Totemkult. In Wahrheit ist das Schreckgespenst der Leichnam eines Fallschirmspringers. Wer das entlarven will, wird von den Anhängern des neuen Kults, charakterschwachen Mitläufern, verfolgt.

Sucht man nach Erklärungen für die gegenwärtige Erosion des demokratischen Fundaments in nahezu allen westlichen Gesellschaften, wird man fündig bei den Urformen menschlichen Zusammenlebens (vgl. Demokratie – eine Fiktion, JF 33/17). Man findet solche Urgesellschaften heute noch bei entlegenen Indianerstämmen und Buschvölkern. Charakteristisch ist für sie der Dualismus zwischen (weltlicher) Exekutivgewalt in Gestalt des Stammeshäuptlings und dem Medizinmann als oberstem Repräsentanten der metaphysischen Sphäre. Die Autorität des letzteren wird meist unterschätzt. In jedem Asterix-Band kann man sich ein Bild davon machen, wer wirklich die Macht hat: Ohne den Druiden Miraculix mit seinem Zaubertrank wäre Häuptling Majestix längst ein Vasall der Römer. Anschauungsunterricht, welche Unruhe die Vertreter des Übersinnlichen in einen vormals gesunden Stamm bringen können, liefert der Asterix-Band „Der Seher“. Goscinny nennt sie „Scharlatane, die von der Leichtgläubigkeit, der Angst und dem Aberglauben der Menschen leben“.

Den gleichen Konflikt finden wir in den Büchern des Alten Testaments: Propheten wie Samuel, Nathan oder Elia forderten die königliche Exekutivgewalt offen heraus, meist mit dem besseren Ende für sich. Wie das Kräftemessen zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt im Mittelalter ausging, als Heinrich IV. 1077 den sprichwörtlich gewordenen Gang nach Canossa antreten mußte, um dem Bannstrahl von Papst Gregor VII. zu entgehen, ist bekannt.

Seit der Aufklärung hat der Glaube an die Autonomie des Menschen den an metaphysische Gewalten und magische Rituale schrittweise abgelöst. Der säkulare Glaube an Vernunft und Fortschritt hat zu einer Wissenschaftshörigkeit geführt, die als Ersatzreligion dient. Auch die Medizinmänner sind geblieben. Sie fungieren nicht mehr als Bindeglied zum Metaphysischen, sondern zur Allmacht des technologischen Fortschritts. Das „meta“ ist gestrichen. Heute genügt das rein Physische. Die Medizinmänner von heute führen keine Regentänze mehr auf, um den ganzen Stamm hinter sich zu bringen, sie läuten die Alarmglocken.

Wer in den letzten Wochen aufmerksam verfolgt hat, wie ganz Deutschland an den Lippen eines Regierungsdruiden hing, als wäre er das Orakel von Delphi, dem muß klar sein: Der Aberglaube der alten Stammesgesellschaft ist quicklebendig. In Männern wie dem regierungsamtlichen Seher Christian Drosten, der sich durch Fleiß und Ehrgeiz zum Chefdeuter in der aktuellen Volksgesundheitskrise aufgeschwungen hat, wird nicht der Sterbliche gesehen, der er ist, sondern der sprichwörtliche Halbgott in Weiß.

Daß Drosten auch irren kann, haben einige kritische Beobachter in jüngster Zeit durch genaueres Hinhören und die Offenlegung von Widersprüchen enthüllt. Auch in den archaischen Stammeskulturen kann ein Medizinmann schnell die Legitimation verlieren, wenn nach dem fünfzigsten Regentanz immer noch kein Regen fällt. Dann schlägt die Stunde des Häuptlings. Er kann sich von dem irrlichternden Schamanen emanzipieren und endlich wieder tun, was wirklich das Beste für die von ihm angeführte Gemeinschaft ist.

Ein Häuptling muß ganz andere Prioritäten setzen. Er muß bei jeder Empfehlung des Medizinmanns zu einem Partikularphänomen das größere Ganze im Blick behalten, kühl und mit Augenmaß die Folgen seiner politischen Entscheidungen zu überblicken versuchen. Er muß abwägen, was mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt und was dem Wohl aller am meisten dient.

Die Politik hätte niemals zulassen dürfen, daß engstirnige Auguren, trainiert auf Petrischalen-Perspektive und mikroskopische Vergrößerungen kleiner Probleme, ihr derart rabiat die Zügel aus der Hand reißen, daß die Fundamente des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens bröckeln und Menschenrechte (Artikel 2, 8, 11 des Grundgesetzes sind seit März de facto außer Kraft) auf einmal entbehrlich werden. Eine Karikatur zur Krise zeigt eine junge Dame, die angstvoll in einen Abgrund blickt. Hinter ihr stehen zwei Männer und eine Frau mit einem bissigen Hund an der Leine. Die Gesichter der beiden Männer tragen die zu einer Fratze verzerrten Züge von Olaf Scholz und Jens Spahn. Die Frau ist eine Karikatur von Angela Merkel. Der böse Hund, der bereits die Zähne fletscht, trägt ein Leibchen mit der Aufschrift Corona. Und die Frau, die am Abgrund steht, das ist die Freiheit. „Spring, sonst beißt dich Corona“, lautet die Textzeile unter dem Bild. 

Die Folgen der aktuellen Krise sind unübersehbar. Es mehren sich die Anzeichen dafür, daß das westliche Demokratie-Modell bereits irreversibel Schaden genommen hat. Vor ziemlich genau einem Jahr veröffentlichte der konservativ-liberale Blog Conservo einen Essay mit dem Titel „Ist das Grundgesetz noch zeitgemäß?“ Er sorgte sich zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes um dessen Zukunft und prophezeite das Ende der liberalen Demokratie in ihrer bisherigen Form. Neue Dogmen seien im Anmarsch, denen sich alles unterordnen müsse, „namentlich die vom deutschen Grundgesetz garantierte individuelle Freiheit“.

Die aktuelle Suspendierung von Grundrechten liefert Klima-Populisten und Ökofundamentalisten wie den dauerempörten Aufwieglern von „Fridays for Future“ die Blaupause für die dauerhafte Abschaffung der bürgerlichen Freiheit zum vermeintlichen Wohle aller und im Namen einer  „alternativlosen“ Weltrettung. 

Jedem ist klar: Die Geschichte, die mit dem Virenzirkus begann, wird weitergehen. Der Grünen-Parteitag vom ersten Mai-Wochenende deutet an, in welche Richtung. Druide Drosten wird verschwinden, der Weltklimarat, ein globaler Mega-Drosten, bleibt. Dem bissigen Hund, der die Freiheit beißen will, kann man bequem ein neues Leibchen anziehen, auf dem Klima steht.