© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Das nackte Dasein ist wichtiger als Utopien
Renaissance der Kontingenz: Warum die Krise konservativ macht und weniger nun mehr ist
Felix Dirsch

Eine Vielzahl von Publikationen hat in den letzten Wochen fundierte Belege dafür gefunden, daß die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus vornehmlich zwei politische Verlierer erkennen lassen: Liberale müssen eine Einschränkung der Grundrechte über sich ergehen lassen. Und Progressive sehen sich enttäuscht, daß viele Menschen – statt sich im utopischen Paradies auf Erden zu wähnen – einfach nur ihr Dasein bewahren wollen. Leben und Gesundheit sind nunmehr alles. Die Rettung des Egos rückt an die Stelle des Wunsches nach Rettung des Weltklimas, bedauert der Philosoph Richard David Precht.

Schlechte Zeiten also für Utopisten jedweder Couleur. Nicht nur Großideologien wie der Marxismus verheißen das Paradies auf Erden, sondern auch neuere wie der Trans- und Posthumanismus. Dessen Ziel ist die Überwindung der Endlichkeit durch große Masteralgorithmen. In der Krise freilich werden selbst Repräsentanten dieser Gruppe kleinlaut. Der Historiker Yuval N. Harari, weltweit gefeierter Autor, stellt in seinem jüngsten Beitrag nur die Gefahren einer intensivierten Überwachung in der postcoronalen Epoche heraus. Große Visionen indessen fehlen.

Ein Gespür für katastrophische Brüche

Das Lager der Konservativen ist auch in dieser Frage gespalten. Die aktuelle Situation legt eine Variante von Konservatismus nahe, die Skepsis, Common sense, eine gewisse Vorsicht und das Bedürfnis nach Halt sowie Geborgenheit bevorzugt. Ihre genuinen Vertreter denken historisch und besitzen ein Gespür für katastrophische Brüche, die die Geschichte aufweist, seien es natürliche wie das Erdbeben von Lissabon 1755, seien es menschengemachte wie die Terroranschläge von 2001. Solche Aspekte gehören zum Fortschrittsprozeß der Moderne. In Goethes Faust II findet sich im Schicksal der Gestalten Philemon und Baucis ein Hinweis darauf.

Ein Einschnitt wie der gegenwärtige bringt Entschleunigung mit sich und schärft den Sinn für das Bewährte. Gerade im Shutdown wächst die Einsicht, daß alles Gute, Trag- und Zukunftsfähige schwer zu erschaffen, aber leicht zu zerstören ist. Bedrohung von außen und vermehrtes Zusammensein mit vertrauten Menschen verschaffen der Familie Auftrieb, Lagerkoller hin oder her. Die Solidarität in kleinen Kreisen ist ein Markenzeichen konservativer Gesinnung. Ein handlungsfähiger Staat ist gefragt. Er ist eher auf nationaler und regionaler als auf europäischer oder gar weltstaatlicher Ebene zu finden. Solidarische Maßnahmen sind in Notsituationen eher auf überschaubaren Ebenen zu erwarten. Primär intergouvernementale Gebilde wie die EU entbehren einer Exekutive, die Entscheidungen schnell ausführen kann.

Das philosophische Stichwort der Stunde lautet: Kontingenz. In Zeiten, in denen die gefühlte Bedrohung des Lebens hoch ist, wird der Einzelne auf seine Endlichkeit, auf die nackte Sorge um sein Dasein zurückgeworfen. Im Kontext bewußter wahrgenommener Sterblichkeit, die nicht identisch sein muß mit statistisch erfaßter, verändert sich die eigene Wertehierarchie. Man fragt vermehrt nach dem, was wichtig ist.

Nebenfolgen des

Tatendrangs der Moderne 

Wenn man eine etwaige Renaissance des Kontingenz-Denkens angemessen würdigen will, muß man sich über seine Randständigkeit im Projekt der Moderne klar sein. Dieses Großunternehmen zeigt von Francis Bacon über Pierre-Joseph Proudhon und Karl Marx bis Jürgen Habermas einen programmatischen Grundzug. Man könnte ihn mit „Defatalisierung des Schicksals“ (Proudhon) umschreiben: Das heißt, es gibt totale Transparenz und totale Herrschaft über alle Existenzbedingungen des Menschen bei gleichzeitiger Realisierung des Autonomiepostulats. Selbstbestimmung und absolute Herrschaft über alles Seiende sollen im Rahmen dieses Unterfangens umgesetzt werden.

Der Tatendrang der Moderne – konkretisiert vor allem durch die Ideologien – läßt allerdings erhebliche negative Nebenfolgen erkennen, etwa ökologische, und kann die selbstgesetzten Ziele nicht umsetzen. Zwei Beispiele belegen das hinreichend: Die Idee des sich selbst herstellenden Menschen, die Marx diskutiert hat, ist heute zentrales Thema der Gentechnik. Daß der Tod, für die Menschen das entscheidende Daseinsfaktum, in seiner vielfältigen Doktrin praktisch irrelevant ist, haben nicht nur marxistische Revisionisten als entscheidende Schwäche gesehen.

Weil Marx und andere Moderne an dem Versuch der „Entkontigentisierung“ (Günter Rohrmoser) gescheitert sind, wird dieses Ziel heute von technizistischen Freaks neu anvisiert. Die Singularität ist der Zeitpunkt, der für den Chefingenieur von Google, den Autor und Erfinder Ray Kurzweil, einen „Point of no Return“ markiert: Die künstliche Intelligenz übertrifft die natürliche. Das Tor zur irdischen Unsterblichkeit betrachtet er ab dem Jahr 2045 als geöffnet. 

Die Wiederkehr des Zufälligen ist kein neues Phänomen. In den 1980er Jahren standen konservative Denker wie Hans Blumenberg, Hermann Lübbe, Odo Marquard oder Günter Rohrmoser für entsprechende philosophische Neuakzentuierungen, die sich gegen die vorausgehende progressive Euphorie richteten. Abzuwarten bleibt, wer der heutigen Zeitenwende einen entsprechenden Stempel aufdrückt.