© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Spielfeld einer neuen Generation
Rechtstwitter heißt ein Phänomen, bei dem junge Nutzer ihren provokanten Aktivismus ins Netz verlegen
Hermann Rössler

Als das Erste Ende April im Tatort „National feminin“ mit der ausgedachten Organisation „Junge Bewegung“ (JB) unverblümt auf die Identitäre Bewegung (IB) anspielte, nahmen die eigentlichen Zielobjekte der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt das mit Humor. Die fiktiven Protagonisten des Krimis, Felix Raue und Marie Jäger sowie die JB, nahmen scheinbar reale Gestalt an. Auf Twitter waren noch vor Ausstrahlung der Sendung Profile für die Filmcharaktere erstellt, denen schnell einige hundert Personen folgten. 

Fotos, Szenen und Sprüche, die rechte Jugendbewegungen diffamieren sollten, wurden nun für Werbung in eigener Sache benutzt. Bearbeitete Fotos von Luisa Neubauer tauchten auf, wie sie im Sommerkleid mit einem gewinnenden Lächeln und einem Plakat der JB mit dem Schriftzug „Frauen schützen, Grenzen schließen“ posiert. Bücher, Deutschrap-Alben bis hin zu Antifa-Aktiven wurden mit dem plötzlich echt daherkommenden Label der JB versehen.

Keine Tabus, dafür viel Spott und Sarkasmus

„Rechtstwitter“ (RT) war aktiv geworden. Darunter ist ein loser Zusammenschluß politisch rechts orientierter Personen in dem Mikroblogging-Dienst zu verstehen. Die Accounts, die selten einen erkenntlichen Namen vorweisen, haben keine gemeinsame Agenda, keinen gemeinsamen Hintergrund und kein einendes Ziel. Ihre Hauptbeschäftigung liegt darin, politisches Geschehen provokant zu kommentieren und das oftmals mit zynischer Häme. Die Bewertungsmaßstäbe der Online-Inhalte lassen sich im wesentlichen in „cringe“ (peinlich) und „based“ (stabil) einteilen. Während selbstbewußte Charaktere der Öffentlichkeit als „Chad“ gewürdigt werden, steht „Virgin“ für den angepaßten bis unterwürfigen Typus.

Dabei wird kein Halt gemacht vor Parteien, Organisationen, gesellschaftlichen und kulturellen Einrichtungen jeder Art. Weder das vermeintlich eigene Lager wird verschont, noch bleiben sogenannte Querfront-Verbindungen aus. Die Maßstäbe der „Rechtstwitterer“ folgen einer eigenen Logik, die davon zeugt, daß der Umgang mit dem Internet für diesen Gesellschaftsteil kein „Neuland“ mehr ist. Als altbacken verstandene „Boomer“ (JF 30-31/19) und „Cucks“ – ihre Position zu leicht aufgebende Pseudo-Konservative –, können Dynamik und Sinn der „Fronts“ (Angriffe) oft nicht nachvollziehen. Lieblingsziel von RT sind „liberale Witzfiguren“, denen fehlende Standhaftigkeit und mangelnde Authentizität vorgeworfen wird. Jüngst ins Visier geraten: Anabel Schunke, die mit ihrem Auftritt in einem von Migranten geprägten Rap-Video viel Kritik hervorrief.

Den Islam abzulehnen, allein um einen liberalen, als dekadent angesehenen, Lebenswandel zu erhalten stellt für viele RT-Sympathisanten keine attraktive Alternative zu linken Gesellschaftsmodellen dar. Als vor kurzem ein Video auftauchte, in dem ein Südländer sich gegen einen Polizisten wehrte, nachdem dieser ihm Pfefferspray in die Augen gesprüht hatte, teilte ein Nutzer die Aufnahme und übertitelte das mit „Was wir von der arabischen Kultur lernen können“. 

Die durch Sperrungen erprobten Twitter-Accounts kämpfen mit harten Bandagen. Ironie und Spott gehören praktisch zu ihrer DNA, die abgesehen davon schwer zu definieren ist. Die vertretenen Positionen reichen von patriotischem Sozialismus bis hin zu reaktionärem Katholizismus oder christenfeindlichem Neuheidentum; und nicht selten kombinieren Twitterer verschiedene Denkweisen. 

RT erscheint so in weiten Teilen als eine Persiflage des politischen Geschehens; auch weil dieses selbst nur noch als eine Art Kasperletheater gesehen wird. Abgabenfinanzierten Witzemachern à la Jan Böhmermann („Boomermann“), deren Humor als eintönig und überholt eingestuft wird, setzt man radikalen Sarkasmus entgegen ohne Rücksicht auf abgetane Vorstellungen von Anstand oder guten Geschmack – Kraftausdrücke gerne, Tabus keine. Dabei weist RT mehr eine aus Computerspielen, Memes (JF 11/19) und Netz-Subkulturen geformte Sprache auf, die für ein älteres Publikum meist schwer verständlich ist. 

Derzeit wird auf der Online-Plattform diskutiert, wie sinnvoll die Troll-Mentalität ist, in der manche Rechte den Verlust wertvoller, patriotischer Prinzipien zu erkennen meinen. Wirkt RT rein destruktiv? Als der Hamburger SPD-Politiker Johannes Kahrs vergangene Woche all seine Ämter niederlegte, feierte RT das als Erfolg, unterstützten und teilten viele schließlich zuvor den Youtuber Klemens Kilic (JF 51/19), der auch Kahrs einen Telefonstreich spielte.

Der Rückzug in die Anonymität der Netzweiten ist eine Reaktion auf den gegen rechte Strukturen repressiv vorgehenden Staat. Der Verfassungsschutz hat mit der Einstufung der IB als „gesichert rechtsextremistisch“ erneut bewiesen, rechte Jugendbewegungen nicht zu dulden. RT ist auch das Spielfeld einer neuen Generation, diese moralinsauren Werte-Credos zu durchbrechen. Wer von den „digital natives“ eine konstruktive patriotische Erziehung verlangt, der muß dafür sorgen, daß diese in der Bundesrepublik überhaupt möglich ist.